Aber nur die wenigsten sind wirklich in der Lage, zu sehen und zu spüren und zu begreifen. Und noch weniger können ihre Beobachtungen und Gedanken im Angesicht der Pracht so in Worte verwandeln wie Wilhelm Lehmann. Geboren 1882 in Venezuela, wuchs Lehmann in Wandsbek auf, studierte in Tübingen, Straßburg und Berlin und verdiente sein Geld zeitlebens als Lehrer.
Allerdings: Lehmann war immer auch Dichter. Für einen Moment schien der literarische Durchbruch möglich. S. Fischer publizierte 1917/18 zwei Romane, 1923 gewann Lehmann den Heinrich-von-Kleist-Preis. Doch als er 1927 sein "Bukolisches Tagebuch" begann, war aus der großen Karriere eine stille geworden. Lehmann lebte in Eckernförde und streifte unaufhörlich durch die sogenannte Schwansener Landschaft. Offenbar ein Paradies.
Lehmanns "Bukolisches Tagebuch" erschien von 1927-1932 als Naturfeuilleton in der Berliner "Grünen Post“. Über fünf Jahre lehrte er seine Leser, wie man den Wechsel der Jahreszeiten spürt und das Werden und Vergehen des Lebens. Der Wind, die Sonne, die Tiere und die Pflanzen, Kälte und Hitze, Staub und Feuchtigkeit, die Wege, die Hecken, die Wiesen und natürlich: das Meer. Lehmann verfügte über unermüdliche Neugier und er wusste immer, wie das hieß, was er sah.
Seit diese Texte geschrieben wurden, sind beinah 100 Jahre vergangen. Aber das tut gar nichts, jeder kann es ausprobieren: Nehmen Sie Lehmanns "Bukolisches Tagebuch", verbringen Sie eine halbe Stunde auf einer Wiese oder Parkbank und staunen Sie: Der Zaunkönig lärmt wie immer und das Schöne liegt direkt vor der Haustür. Ein Glück.
Eine Rezension von Uli Hufen
Literaturangaben:
Wilhelm Lehmann: Bukolisches Tagebuch
Matthes & Seitz, 2022
290 Seiten, 12 Euro