Buchcover: "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" von A.L. Kennedy

Lesefrüchte

"Als lebten wir in einem barmherzigen Land" von A.L. Kennedy

Stand: 31.03.2023, 15:39 Uhr

"Das dumme Ende eines sehr dummen Landes": In ihrem neuen Roman rechnet die Schottin A.L. Kennedy mit den gesellschaftliche und politischen Entwicklung Großbritanniens ab.

Fans von Alison Louise Kennedy verehren sie aus mehreren Gründen: Zum einen sind da ihre mehr als liebenswerten Figuren, oft Mängelwesen voller Unsicherheiten und Neurosen.

Zum anderen ist Kennedy eine gnadenlose Beobachterin und Meisterin der bissigen Ironie, mit sicherem Gespür für Komik. Die Glossen, die sie seit dem Brexit über die Entwicklung Großbritanniens für die Süddeutsche Zeitung geschrieben hat, strotzten auch noch vor Wut.

In "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" kommt dies nun alles zusammen. Ich-Erzählerin Anna McCormick beginnt in der Weltuntergangsstimmung des Corona-Lockdowns mit einem Tagebuch.

Anna ist Grundschullehrerin und ein sensibler Mensch, der selbst erst lernen musste, nicht an der Welt zu verzweifeln, vor allem, weil es mit der Menschlichkeit im Vereinigten Königreich des 21. Jahrhunderts vorbei zu sein scheint. Dennoch versucht Anna ihren Schülern so etwas wie Geborgenheit und Stabilität zu vermitteln. Nur mit einer Sache kommt Anna gar nicht klar.

Aus der Vergangenheit ist ein Mann aufgetaucht, den sie Buster nennt. Er hat ihr einen Umschlag mit Texten hinterlassen, die sein Leben als eiskalter Killer ästhetisieren. Busters Texte kontrastieren im Roman nun Annas Lock-Down-Alltagserzählungen, in denen sie ihr Herz auf der Zunge trägt. Buster gibt es nur mit Maske.

Sie erzählt rührend von der Liebe zu ihrem Sohn. Er ist der eiskalte Manipulator. Als Spitzel der berüchtigten Metropolitan Police hatte Buster einst den Namen eines gestorbenen Babys benutzt, um sich in die AgitProp-Gauklertruppe einzuschleichen, mit der Anna in den 80ern streikende Gewerkschaftler im Kampf gegen die Politik Maggie Thatchers unterstützte.

"Als lebten wir in einem barmherzigen Land" ist ein Abgesang auf eine Heimat, die lange für Freiheit und Demokratie stand, und nun Alte und Kranke, alle Schwachen der Gesellschaft sich selbst überlässt. Im Roman bringt die Grundschullehrerin ihren Schützlingen bei, böse Kobolde zu erkennen und Lügen-Narrative zu durchschauen. Sie steht für das "andere" Großbritannien.

Muss man sich um das Mutterland der Demokratie also Sorgen machen? Aus der Perspektive der großartigen A.L. Kennedy leider ja! Auch wenn Hauptfigur Anna hier einen berührenden Gegenentwurf und die Möglichkeit der Menschlichkeit verkörpert.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Literaturangaben:
A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
Hanser Verlag, 2023
464 Seiten, 28 Euro