
Krimicheck
"Die grässliche Bescherung in der Via Merulana" von Carlo Emilio Gadda
Stand: 31.03.2023, 15:34 Uhr
1957 erstmals erschienen, ist dies wohl einer der schillerndsten und verzwicktesten Kriminalromane. Denn Gadda benutzte hier die Krimiform für außergewöhnliche sprachliche und stilistische Experimente. Ein Meilenstein nicht nur der Krimi- sondern auch der neueren italienischen Literatur.
Drei Wochen, nachdem Commissario Ingravallo bei den reichen Balduccis zum Essen eingeladen war, ruft man ihn dienstlich in deren Wohnung. Liliana, die Hausherrin, liegt mit durchtrennter Kehle im Salon. Neben ihr kniet ihr Neffe, er hat die Ermordete gefunden. Ingravallo verhaftet ihn. Weil er selbst von der erotischen Ausstrahlung Lilianas gefangen war, vermutet er ein Liebes-Verhältnis zwischen Neffen und Tante.
Zwar scheint die weitere Handlung des 1957 erschienenen Romans seine Einordnung als Krimi zu bestätigen: Spuren werden verfolgt, Zeugen und weitere Tatverdächtige verhört. Doch spätestens ab der Mitte ufert sowohl die Spurensuche aus, sodass von einem gewöhnlichen "Who-done-it" nicht mehr die Rede sein kann. Den hatte der Autor auch gar nicht im Sinn.
Gadda benutzte lediglich die traditionelle Krimiform, um ein Porträt der römischen und italienischen Gesellschaft zur Zeit des Faschismus zu zeichnen. Sowohl die im Mietshaus in der römischen Via Merulana wohnende reiche Elite wie deren aus der südlichen Provinz stammenden Dienstboten und deren Lebensumwelt nimmt er ins Visier. Dabei verfolgt er nicht nur soziologische Interessen, sein Hauptaugenmerk liegt auf der Sprache seiner Protagonisten.
Überdies ist Gaddas Roman der wohl erste "Kriminalroman", der gleichzeitig auch als eine Art literarisches Labor gedacht war, ein Experiment mit unterschiedlichen Erzählformen, überraschenden Perspektivwechseln und einer überwältigenden Fülle umgangssprachlicher Ausdrucksformen. Ein Meilenstein nicht nur der Krimi- sondern auch der neueren italienischen Literatur.
Eine Rezension von Peter Meisenberg
Literaturangaben:
Carlo Emilio Gadda: Die grässliche Bescherung in der Via Merulana
Mit einem Nachwort von Anna Vollmer
Aus dem Italienischen von Toni Kienlechner
Verlag Klaus Wagenbach, 2023
352 Seiten, 26 Euro