Buchcover: "Nachmittage" von Ferdinand von Schirach

"Nachmittage" von Ferdinand von Schirach

Stand: 14.10.2022, 09:07 Uhr

Ferdinand von Schirachs poetischer Kurzgeschichtenband "Nachmittage" kreist um essentielle Lebenserfahrungen wie das flüchtige Glück, die Liebe, den Verlust, die Schuld, die Kraft der Erinnerung und um die Kunst, die Alles und Alle miteinander verbindet.

Oft sind es zufällige Begegnungen in Cafés oder Hotelbars, die zu Geschichten werden. Gleich zu Beginn erklärt eine chinesische Begleiterin dem reisenden Autor, dass jeder Mensch mit einem anderen durch einen roten Faden schicksalshaft verbunden sei. In einer weiteren weiß ein Uhrenhersteller nicht mehr, wie sein Erpresser zu Tode kam und welche Rolle der Alkohol dabei spielte. Schicksal und freier Wille sind Kategorien, die hier verhandelt werden. Schuld auch und Selbstbetrug. Vor allem aber die Melancholie ist omnipräsent in diesen 26 Geschichten, die sich nach und nach zu weitläufigen Erinnerungslandschaften erweitern.

Wie gewohnt schreibt Ferdinand von Schirach aus der autobiographisch gefärbten Ich-Perspektive. Er nimmt seine Leserinnen und Leser mit nach Neapel, Taipeh, Wien, Pamplona, nach New York City oder Berlin. An diesen Orten begegnen ihm meist an den titelgebenden Nachmittagen Menschen, die er von früher kennt. Darunter immer wieder auch eine als "sie" bezeichnete Frau mit der ihn eine gemeinsame, schmerzlich erinnerte Vergangenheit verbindet. Aber auch Zufallsbekanntschaften, wie in jenem Hotel in Tokio, das man aus dem Kinofilm "Lost in Translation" kennt. Hier klärt ihn eine junge Frau über die Bedeutung von Stofftieren in der japanischen Geschäftswelt auf und erzählt ihm ihre Lebensgeschichte, in der eine wertvolle Uhr von Marlene Dietrich eine Rolle spielt.

Ferdinand von Schirachs Geschichtenband "Nachmittage" berührt durch seinen weichen und fließenden Grundton, der etwas Bewahrendes und Beschützendes in sich trägt. Es geht um die Möglichkeit von Kommunikation auch in der flüchtigen Begegnung. Und darum, dass die Geschichten, die wir einander erzählen, uns vor der existentiellen Einsamkeit schützen können.

Eine Rezension von Claudia Cosmo

Literaturangaben:
Ferdinand von Schirach: Nachmittage
Luchterhand Verlag, 176 Seiten, 22 Euro