Autorin im Gespräch

Ulrike Anna Bleier über "Spukhafte Fernwirkung"

Stand: 06.01.2023, 11:53 Uhr

Ulrike Anna Bleier erzählt in ihrem dritten Roman vom unsichtbaren Netz, das hunderte Figuren verbindet. In ihrem dramaturgischen Konzept orientiert sie sich modellhaft an der Quantenverschränkung. Was sich kompliziert anhört, ist spannend, innovativ und sehr kurzweilig zu lesen.

Die Menge an Figuren, vielschichtigen Geschehnissen und Verbindungen ist herausfordernd, ganz wie die Lebenssituationen der Akteur:innen, doch lädt der Text zum spielerischen Umgang ein: Die Geschichten lassen sich weiterspinnen, lose Fäden verbinden, und sie stehen gleichberechtigt nebeneinander. Wir erfahren, was "Tote Tage" sind und hyperbolische Räume und dürfen die aktuelle Literatur im Licht der Quanten-Theorie betreten.

"Spukhafte Fernwirkung" präsentiert ein Tableau unserer fragmentierten Gegenwart: kurzzeitige Wahrnehmung von Beziehungen, fließenden Identitäten und Arbeitsabläufen, zeigt soziale Vereinsamung oder Paarung. In den Hauptmotiven Erinnerung, Zufall, Doppelung und Körperlichkeit bis hin zur Analyse gegenseitiger Anziehung oder Abstoßung taucht viel Skurriles auf: eine häkelnde Ukrainerin, ohne Unterschenkel, eine schüchterne Frau in einer Online-Redaktion, die einen Überfall plant, bis hin zur Teetasse mit Informationen zu Teilchenbeschleunigern.

Höhepunkte sind ein Amoklauf im Einkaufszentrum und eine Geiselnahme in der Online-Redaktion, und im finalen Kapitel verdichten sich die Fäden der Hauptfiguren in einer Phantasmagorie. In einer eigenen Sprache voller lakonischem Humor und Wiederholungen à la Thomas Bernhard geht es "Mit der Zeit" durch acht Kapitel, überschrieben mit mathematischen Formeln, Kilometerangaben, Jahreszahlen oder Blutdruckwerten, durch den Kosmos eigenwilliger Ereignisse.

Superpositionsprinzip heißt in der Quantenphysik das Prinzip der Überlagerung, und hier geschieht es in unendlich wirkenden Erzählschichten, die Geist und Phantasie in Bewegung halten und die einzelnen Figuren im universellen Zusammenhang auflösen.

Ab und zu musste ich an Penelope denken, die nachts wieder auftrennt, was sie am Tage gewebt hat, um sich die Freier vom Leibe zu halten. In der langen Arbeit an der Textur während Odysseus‘ Reisen entsteht auch in spukhafter Fernwirkung ein Stoff, der trotz aller Hindernisse überraschend organisch ist – beeindruckend.

Eine Rezension von Bettina Hesse

Ulrike Anna Bleier über "Spukhafte Fernwirkung"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 07.01.2023 13:33 Min. Verfügbar bis 07.01.2024 WDR 5


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Literaturangaben:
Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung.
Edition Lichtung, 2022.
410 Seiten, 24 Euro.