Wo beginnt man seine eigene Geschichte? Mit den Vorfahren, die einst in Südafrika als Kolonisierte und Kolonisatoren aufeinander trafen? Mit den Aunties und Uncles, die auf ihre Weise gegen das Unrecht der Apartheid kämpften oder auf der Strecke blieben? Mit den Verwandten, die selbst in den Erzählungen der eigenen Familie kaum vorkommen?
Simoné Goldschmidt-Lechner holt weit aus, um die Familiengeschichte von "Mädchen" zu erzählen. Mädchen wächst zwischen Kapstadt und München auf. Sie fühlt sich unzugehörig, mit allen Labels unwohl.
In kurzen puzzlestückartigen Kapiteln erfahren wir warum: Wir lernen den Geist der früh gestorbenen Cousine Roni kennen, der nachts zu Mädchen spricht. Die Gewalt, die Menschen einander antun durch Erzählen oder Nichterzählen bestimmter Geschichten. Und wir erahnen die vielen Perspektiven, die da noch zu hören wären, würden wir sie nicht auslassen und vergessen.
Simoné Goldschmidt-Lechners Debüt "Messer, Zungen" heißt "Roman", folgt aber bewusst keiner klassischen Dramaturgie. Es ist eine kaleidoskopartige Montage von Perspektiven, minoritären, ungehörten, widerständigen, auf die Gewaltgeschichte Südafrikas und deren vermeintliches Ende.
In diesem kurzen Buch der Stimmen wird Geschichtsschreibung und Geschichtenschreibung eher dekonstruiert. Nach der Lektüre verstehen wir Mädchens Unbehagen mit Etiketten, mit weißer Repräsentation von People of Colour. Ihr Sehnen nach einer Welt ohne Auslassungen, ohne begriffliche Schubladen, die Menschen in ihrer Entfaltung begrenzen.
Eine Rezension von Fabian May
Literaturangaben:
Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl): Messer, Zungen
Matthes & Seitz, 2022
190 Seiten, 20 Euro