Kerstin Preiwuß über "Heute ist mitten in der Nacht"

Autorin im Gespräch

Kerstin Preiwuß über "Heute ist mitten in der Nacht"

Stand: 13.01.2023, 10:55 Uhr

Mit der Pandemie und dem Krieg ist Angst zu einem bestimmenden Lebensgefühl geworden. In einem bemerkenswerten Text erkundet Kerstin Preiwuß, wie sie als Schriftstellerin den Katastrophen der Gegenwart etwas entgegensetzen kann.

Glaubhaft versichert Kerstin Preiwuß, dass sie nie vorgehabt hat, über sich oder die "Liste ihres Unglücks" zu schreiben. Doch mit der Pandemie betraf das eigene Lebensgefühl der Angst plötzlich alle. Die preisgekrönte Schriftstellerin, Lyrikerin und Literaturprofessorin erkundet zunächst jene Momente, die die Angst im eigenen Leben genährt haben, analysiert die Momente, die das Leben in ein "davor" und "danach" einteilen.

Wie etwa der Anruf, durch den sie vom Unfall des Stiefvaters erfuhr. Danach, am Krankenhausbett, schien die Zeit stehen zu bleiben, obwohl sie fortdauerte. Gefangen in der Zeit und in der Angst – während der Corona-Pandemie findet sich Kerstin Preiwuß plötzlich gemeinsam mit allen anderen in diesem Zustand wieder.

In fingierten Briefen führt sie uns in die Corona-Lockdown-Zeit zurück, als "früher" plötzlich zum Sehnsuchtspunkt wurde, und die Zukunft nur noch als Konjunktiv erschien.

Wie sollte sie da schreiben, wenn noch nicht einmal örtliche Distanz zum Geschehen geschaffen werden konnte? Aber was bringt das Schreiben überhaupt, wenn das eigentliche Geschehen schon passiert ist? Wenn es die Welt schon verändert hat? Was bleibt uns, wenn wir nur Zuschauer sind, wenn die Sprache und Bilder des Elends in den Nachrichten Alltag wird?

Das fragt sich die Autorin angesichts des Ukraine-Kriegs. Die Überlegungen und Erinnerungen zeugen von einer tiefen Verbundenheit mit den Menschen in den postsowjetischen Staaten Osteuropas. Eine Verbundenheit, die Kerstin Preiwuß in der eigenen ostdeutschen Erfahrung verankert sieht. Eindrückliche Passagen, die für die westdeutsche Leserin eine große Bereicherung darstellen.

Im Erleben der Schriftstellerin tritt unsere Gegenwart zutage. Diese mag im Moment des Schreibens immer schon überholt sein. Aber wir sind in der Ohnmacht nicht allein: Kerstin Preiwuß findet Trost im Erfahrungsabgleich mit Kolleginnen und Kollegen und setzt der Gegenwart eine poetische Zeitdiagnose voller Empathie und Menschlichkeit entgegen.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Kerstin Preiwuß über "Heute ist mitten in der Nacht"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 14.01.2023 12:09 Min. Verfügbar bis 14.01.2024 WDR 5


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Literaturangaben:
Kerstin Preiwuß: Heute ist mitten in der Nacht
Berlin Verlag, 2023
192 Seiten, 22 Euro