Live hören
ARD Infonacht
23.03 - 07.00 Uhr ARD Infonacht
Heinz Helle über "Wellen"

Autor im Gespräch

Heinz Helle über "Wellen"

Stand: 04.11.2022, 10:28 Uhr

Neue Väter hat das Land! Zwischen stinkenden Windeln und Schreiattacken des Neugeborenen reflektiert Heinz Helle über Männlichkeit und Vaterschaft. Wie schafft Mensch es, in der einschränkenden Häuslichkeit mit all ihren Notwendigkeiten glücklich zu sein?

Man(n) macht Care-Arbeit: Mit der Geburt seiner zweiten Tochter wird das Leben von Familienvater und Schriftsteller Heinz Helle von der vermeintlichen Ereignislosigkeit des Alltags mit Baby bestimmt. Schreit das Kind nachts, steht er auf und rührt mechanisch das Milchpulver an. Seine Frau ist zu der Zeit die Hauptverdienerin.

Er will ein guter Vater und Partner sein, trotzdem muss er sich eingestehen, dass die Situation nervenzehrend ist. Ja, er sogar ein gewisses Gewaltpotenzial gegenüber dem wehrlosen Wesen verspürt, dessen Schreien das eigene Ich aufzulösen droht. Im nächsten Moment aber fragt er sich, ob das Kind noch atmet.

Das Hin- und Her zwischen Anstrengung und Angst, die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit müssen formuliert werden. Nun kann niemand ein Baby halten und gleichzeitig schreiben. Helle schafft es trotzdem. Er muss es tun. Das Schreiben, das Leben in Form zu bringen, beruhigt ihn.

Also lässt uns Heinz Helle fast in Echtzeit an den Details des Familienlebens teilnehmen. Umgekippte Windeleimer, eine Lesung in Bremen und Einlässe zu queerer Literatur und Heiner Müller wechseln sich ab mit Fluchtfantasien, dem reinen Funktionieren, und innigen Momenten der Liebe. Helle denkt vom Kleinen ins Große und ergründet, warum es denn nun so schwer ist, im täglich Gegebenen Glück zu empfinden.

Der Autor weiß, der Schlüssel dazu, weiter zu lieben, die Fähigkeit zum Staunen nicht zu verlieren und im Dialog mit seiner Frau zu bleiben, liegt in der Fähigkeit zur Selbstreflektion und der Selbstmitteilung. Dazu gehört es auch, der eigenen Wehleidigkeit und den Anflügen von Narzissmus Raum zu geben.

Die meisten Absatzanfänge fangen mit "Und als..", "und dann…" an. Sanft rollen die Notwendigkeiten des Alltags und Haushaltpflichten vor dem Hintergrund des Corona-Alltags durch die Zeit.

Helle gibt seinen Sätzen einen Rhythmus, der das Hin- und Her zwischen Herd und Kinderbett, das Auf und Ab zwischen Genervtheit und Glück, zwischen Banalem und Philosophischem, das Oszillieren zwischen Ausbruchsfantasie und Zugewandtheit abbildet. Eine Symphonie des Alltags. Und soll man nun als Frau einen Mann abfeiern, weil er merkt, dass es "keine Rettung gibt vor der Verblödung durch die Arbeit, die früher Frauen gemacht haben"? Ja, unbedingt.

Weder Frau und Mann sollten die Familienzeit so empfinden. Es ist doch da das Glück, es kommt in Wellen. Schreiben böte anderen Menschen die Möglichkeit, Trost und Hoffnung zu finden, heißt es im Text. Das ist Heinz Helle mit dieser Autofiktion gelungen.

"Wellen" ist eine Liebeserklärung an seine Frau und seine Töchter, ein Gesprächsangebot an die Gesellschaft und eine beeindruckende Selbstreflexion.

Eine Rezension von Mareike Ilsemann

Heinz Helle über "Wellen"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 05.11.2022 11:22 Min. Verfügbar bis 05.11.2023 WDR 5


Download

Literaturangaben:
Heinz Helle: Wellen
Suhrkamp Verlag, 2022
284 Seiten, 23 Euro