
Aktuelle Lyrik
"Nachtdämmern" von Steinunn SIgurdardóttir
Stand: 30.09.2022, 12:54 Uhr
Er strahlte Ewigkeit aus und wachte über ihre Kindheit. Nun schmilzt Islands Großgletscher Vatnajökull durch den Klimawandel. Doch wenn der Gletscher stirbt, werden die Isländer keine IS-länder mehr sein, klagt Islands bekannte Dichterin.
Der Vatnajökull, isländisch für "Wassergletscher", ist der größte Gletscher, das Wahrzeichen Islands. Es handelt sich um einen Plateaugletscher im Südosten des Landes, unter dessen mächtiger Eisschicht einige der aktivsten Vulkane der Insel liegen. Soweit die Fakten.
Für Steinunn Sigurdardóttir, eine der bekanntesten Autorinnen Islands, ist der Vatnajökull weit mehr. In "Nachdämmerung" erkundet sie die eigene Verbundenheit mit dem mächtigen Gletscher, der schon über ihre Kindheit wachte. In seinem Licht "umzucken" Minisonnenstrahlen ihre Wiege. Kühe kommen ans Licht und die "land-landschaft" der Jahreszeiten.
In "Nachdämmerung" skizziert Sigurdardóttir zunächst das Kommen und Gehen im Schatten des Lichtbergs: Die eigene Lebensspanne, die Kindheit auf dem Land zwischen Kühen und Milchkannen oder die Enge des Londoner Studentenzimmers, die kann sie überblicken. Der Gletscher aber strahlt Ewigkeit aus, er ist für sie der "helle Ewigkeitsberg".
Einst brachten die Vulkane unter seiner Eisschicht die karge Landschaft hervor, in denen das Leben der Isländer seit Generationen verankert ist. Gedicht für Gedicht besingt Steinunn Sigurdardottir den Vatnajökull, den "unabkömmlichen einheimischen."
Der Gletscher stöhnt und ächzt, kalbt, bewegt sich, und droht in tausend Teile zu zerspringen. Sigurdardottir verleiht dem Gletscher eine Seele, auch wenn wir die Lautmalerei ihrer Sprache in der Übersetzung in den eher formlosen Zeilen nur erahnen können.
Aber die Hymnen werden zum Klagelied. Der Gletscher stirbt, "er, den bald niemand mehr sieht. Er, der ins meer fließt". Der lebendige Eisberg, Wahrzeichen Islands, wird wieder zu Wasser, es bleibt nur ein "Geröllberg". Die Nacht bricht an.
Sigurdardottirs Klagelieder über den sterbenden Gletscher zeugen von der tiefen Verbundenheit mit der Naturerscheinung. In ihrer Wahrnehmung sind Menschen, Tiere und der Gletscher belebte Wesen. Sie erinnert uns daran, dass wir im Anthropozän die Verbindung zur Natur verloren haben.
Was droht, ist der Identitätsverlust. "Was für -länder werden wir so genannten Is-länder, wenn der gletscher geht? IS-länder nicht."
Eine Rezension von Mareike Ilsemann
Literaturangaben:
Steinunn Sigurdardóttir: Nachtdämmern. Gedichte
Aus dem Isländischen von Kristof Magnusson
Dörlemann, 2022
120 Seiten, 22 Euro