- Sendehinweis: WDR 4 Knispel am Sonntag | Morgen, 09.00 - 13.00 Uhr | WDR 4
Von außen
Nach außen hin waren die Cramers immer eine perfekte Familie der gehobenen Gesellschaft. Vater Hans war Diplomat, auf dem politischen nationalen und internationalen Parkett zuhause und ist dauernd in der Welt umhergeflogen. Dass er dabei seine Familie so gut wie nie gesehen hat, war damals normal. Dafür war seine Frau zuständig.
Von innen
Wenn Vater Hans mal da war, dann wurde nicht gekuschelt. Vater Hans hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt und ist, wie diese gesamte Generation, traumatisiert. Wie das damals so war, hat er nie über den Krieg, die Ängste und all das Schreckliche gesprochen, sondern stattdessen diese typische kalte Härte entwickelt, in der Gefühle, vor allem wenn sie weich und liebevoll sind, nichts zu suchen haben.
Härte ist eine Tugend, und was uns nicht umbringt, macht uns stark.
Entsprechend sind die Cramer-Kinder alle zu Einzelkämpfern erzogen. Hilfe annehmen ist keine Option, nach Hilfe fragen schon mal gar nicht. Probleme muss man mit sich selbst ausmachen, und Verdrängen oder Ignorieren geht sowieso einfacher. Der einzige liebevolle Anker im Leben der Familie war die Mutter, die stirbt, als die Kinder noch Teenager sind. Auch dieses tragische Erlebnis wird mit Schweigen belegt.
All das hat natürlich die Cramer-Kinder geformt und alle drei kommen mit dem Leben nicht richtig klar. Jetzt als Erwachsene haben sie ihr Leben auf unterschiedliche Art eskalieren lassen, wobei sie selber wohl eher sagen würden, dass ihr Leben "eskaliert wurde".
Tochter Elena hat Krebs, nimmt aber die Strahlentherapie nicht ernst. Tochter Luka hat als Kriegsreporterin einen unachtsamen Fehler gemacht, wegen dem Menschen gestorben sind. Sohn Tom hat als Leiter einer Psychiatrie den Selbstmord eines Patienten zu verantworten.
Der Knall
Als der demente Vater Hans in Bonn spurlos verschwindet und die Polizei sich einschaltet, kommen alle Kinder zurück ins Elternhaus, um nach Hans suchen. Gemeinsam müssen sie jetzt über die Zukunft von Hans sprechen und herausfinden, was das für die eigenen Leben bedeuten wird. Dabei bemerken sie, wie unheimlich der Geist der Vergangenheit ist, der über allem schwebt – über der gesamten Familie und über jedem einzelnen.
Hinfallen, Krone richten, weitermachen.
Was anfangs noch als unmöglich in Stein gemeißelt war, zerbröselt mit der Zeit immer mehr: Die Cramers nähern sich einander an und bauen aus dem Schutt der Einzelkämpfer-Vergangenheit das Fundament einer neuen Familien-Zukunft. Dabei fallen sie sich zwar nicht jauchzend in die Arme, aber Julie von Kessel ist auch nicht Rosamunde Pilcher.
Figuren, die einem nahe gehen – weil sie echt sind.
Genau deshalb, weil die Figuren nicht schwarz und weiß, sondern poltrig und gleichzeitig zart, unangenehm ehrlich und gleichzeitig vergebend, nervend und gleichzeitig umarmend sind, geht es nahe, wie verbunden alle letztendlich miteinander sind. Als Familie Cramer.
Andrea Halters Meinung zum Hörbuch
Bei diesem Hörbuch ist mit mir etwas passiert, was nicht oft vorkommt. "Die andern sind das weite Meer" wird von der Schauspielerin Sophie von Kessel so fantastisch gelesen, dass ich zwischendurch immer wieder vergessen habe, dass ich gerade aktiv einem Hörbuch zuhöre.
Die inneren Monologe der Figuren habe ich in meinem Kopf gehört, wie, wenn ich selber nachdenke oder mit mir spreche, ohne den Umweg über meine Ohren. Was für eine Kunst, sich als Schauspielerin und Sprecherin so zurücknehmen zu können.
"Die andern sind das weite Meer" hat bei mir im Regal, ebenso wie das großartige Romandebut von Julie von Kessel "Altenstein", einen festen Platz. Oft, wenn ich daran vorbei gehe, frage ich mich, was die Figuren heute wohl so machen.
"Die andern sind das weite Meer"
Autorin: Julie von Kessel
Hörbuch gelesen von: Sophie von Kessel
Verlag: Eisele
Spieldauer: 8 Stunden und 33 Minuten