Live hören
Psychotrop - Krimi um Psychotherapie mit halluzinogenen Drogen

26.07.2021 – Wagner, „Der fliegende Holländer“ bei den Bayreuther Festspielen

Stand: 26.07.2021, 10:30 Uhr

Die Bayreuther Festspiele haben aufgerüstet. Das Festspielgelände ist vollgestellt mit Testzelten, Schließfachboxen, Registrierungsschaltern, Drängelgittern, die die dem Publikum die Richtung weisen: ein strenges Hygienekonzept. Doch beim Betreten des Zuschauerraums macht sich Verunsicherung breit. Zwar sind nur die Hälfte der Zuschauer zugelassen, gut 900 Menschen, aber es wirkt wie immer im Saal, eng und dicht. Hoffentlich geht alles gut. Man ist es einfach nicht mehr gewohnt, mit vielen Menschen auf engem Raum zu sein.

Vom ersten Ton an in der Ouvertüre des „Fliegenden Holländer“ spürt man den Zugriff der Dirigentin Oksana Lyniv, ihren Gestaltungswillen. Es ist ein sorgfältiges, energetisches, plastisches Musizieren. Sie ist seit 145 Jahren die erste Dirigentin am Grünen Hügel, wurde mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht und will die Erwartungen einlösen. Man merkt, dass sie die Partitur kennt und ihre Vorstellungen übertragen kann. Das zeigt sich besonders darin, wie sie die verschiedenen Stilebenen dieser Musik herausarbeitet, denn anders als „Tristan und Isolde“ oder „Parsifal“ ist dieses Frühwerk von Wagner musikalisch keineswegs aus einem Guss. Da gibt es die dissonanten vollen Akkorde, wenn die düstere Holländerthematik erklingt. Dann gibt es aber auch den leichten klassizistischen Tonfall. Beides unterscheidet Oksana Lyniv deutlich, etwa am Übergang vom ersten in den zweiten Akt. Da geht es vom kraftvollen Forte unversehens über in ein ziseliertes Spielen mit feinen Details, bevor der Chor der Spinnerinnen einsetzt. Alle Orchesterpassagen gelingen ihr mit großer Musikalität, Detailgenauigkeit, geradezu mit Entdeckerinnenfreude. Manchmal denkt man sogar, sie gestalte aus dem Geist der barocken Affektenlehre, so detailreich wird das Figurenwerk herausgearbeitet.

Der Höhepunkt des Abends ereignet sich ziemlich genau in der Mitte des Stücks: die Ballade der Senta. Hier hat Oksana Lyniv in der Sopranistin Asmik Grigorian eine kongeniale Partnerin, die ebenfalls ihr Debüt in Bayreuth gegeben hat. Sie singt die Ballade nicht in einem Zug durch. Sie gliedert das Stück in eine Abfolge von Ausrufen, schreit ihre Fantasien, wie sie den fliegenden Holländer erlösen will, Mal um Mal heraus, nimmt sich dann zurück, nimmt einen neuen Anlauf. Das alles tönt in einer klaren, stechend-durchdringenden Stimme, so wie sie seinerzeit in Salzburg bei der Partie der Salome – das war ihr internationaler Durchbruch – mit der Unbedingtheit eines Singens, das scheinbar den ganzen Körper erfasst, das Publikum bannt. Hier kam der Ansatz von Oksana Lyniv, die Musik in nachvollziehbare Abschnitte zu gliedern, zu unterscheiden zwischen sprachnahen reflektierenden Sentenzen und gewaltigen Ausbrüchen mit einer Sängerin, die das aufzugreifen wusste, zu einer glücklichen Übereinstimmung.

Das funktionierte mit den anderen Sängern nicht in gleicher Weise. Wohl hatte John Lundgren in der Titelpartie verstanden, worum es ging. Aber ihm fehlten einfach die stimmlichen Mittel, um die rezitativischen Partien, etwa im ersten Akt, wenn er seine Geschichte der ewigen Verdammnis, die Weltmeere umsegeln zu müssen, erzählt, in einer intensiven Beiläufigkeit vorzutragen. Das Parlando im Piano liegt ihm nicht. Er braucht immer das kraftvolle Forte. Ebenso hatte Eric Cuttler als Erik Schwierigkeiten in der Nuancierung seiner Partie. Dagegen ist Georg Zeppenfeld ein so versierter und kultivierter Sänger, dass ihm das Joviale und Volkstümliche in der Partie des Daland keinerlei Schwierigkeiten bereitet.

John Lundgren (Holländer), Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland), Asmik Grigorian (Senta) im zweiten Akt

John Lundgren (Holländer), Marina Prudenskaya (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland), Asmik Grigorian (Senta) im zweiten Akt

Dabei ist er in der Inszenierung vom Dmitri Tcherniakov eigentlich der Bösewicht, aber nicht wie in traditionellen Inszenierungen, weil er seine Tochter, geblendet von den Schätzen des Holländer, verschachert. Tcherniakov hat sich eine andere Geschichte ausgedacht, die überhaupt nichts mehr mit Schiffen und dem Meer zu tun hat, nichts mehr mit den Erlösungswünschen eines Verdammten. Der Holländer gehört hier zur Dorfgemeinschaft. Während der Ouvertüre sieht man, wie Daland mit der Mutter des Holländer eine Liebesaffäre hat und sie in den Selbstmord treibt. Das beobachtet der Holländer als kleiner Junge und ist traumatisiert. Wenn er zu Beginn der Oper in das Dorf zurückkehrt, schmiedet er Rachepläne. Die geplante Hochzeit mit Senta, die bei einem Festessen in einem biederen Wintergarten besiegelt wird, ist nur ein Mittel dazu. Und Senta spielt mit, aber eigentlich nur, weil sie ein aufmüpfiges Mädchen ist, dem es vor allem um Rebellion gegen die Enge der Welt geht, in der sie leben muss. Im dritten Akt kommt es zum Showdown. Der Holländer schießt wahllos in die Festgesellschaft und legt Brände. Er selbst wird von Mary gelyncht, die in Tcherniakovs Inszenierung nicht die Amme ist, sondern die betrogene Ehefrau von Daland.

Tcherniakov hat wie immer auch das Bühnenbild gestaltet. Diesmal sind es moderne zweistöckige Wohnhäuser, die im Verlaufe des Abends hin und her geschoben werden, mal besagten Wintergarten freigeben, mal eine Dorfkneipe, mal den Raum öffnen für eine Festgesellschaft. Tcherniakov bleibt bei seiner Inszenierung und Ausstattung in Bayreuth aber weit hinter dem zurück, was er in anderen Inszenierungen gezeigt hat, etwa bei der „Legende der unsichtbaren Stadt Kitesch“ von Rimkski-Korsakow in Amsterdam, bei „Ruslan und Ludmilla“ von Glinka am Bolschoitheater oder bei seinem düsteren, in einem sibirischen Bergmine spielenden „Parsifal“ in Berlin.

Wegen der Corona-Auflagen durfte der Chor auf der Bühne nicht singen, sondern nur spielen. Er wurde geteilt. Gesungen wurde in einem Nebengebäude und der Klang über Lautsprecher zugespielt. Das gelang manchmal besser, etwa beim Chor der Spinnerinnen im zweiten Akt, manchmal gar nicht gut im dritten Akt, der eigentlich nur aus Chorszenen besteht. So war das an sich bemerkenswerte Debüt von Oksana Lyniv in Bayreuth getrübt von erheblichen Balanceproblemen, die wohl auch kein anderer Dirigent hätte lösen können.

Zurecht aber erhielt sie und Asmik Grigorian Ovationen beim Schlussapplaus, während Dmitri Tcherniakov Buhsalven erdulden musste.

Premiere: 25.07.2021

Besetzung:
Holländer: John Lundgren
Daland: Georg Zeppenfeld
Senta: Asmik Grigorian
Erik: Eric Cutler
Mary: Marina Prudenskaya
Steuermann: Attilio Glaser

Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele


Musikalische Leitung: Oksana Lyniv
Inszenierung und Bühnenbild: Dmitri Tcherniakov
Kostüme: Elena Zaytseva
Licht: Gleb Filshtinsky
Dramaturgie: Tatiana Werestchagina
Chorleitung: Eberhard Friedrich