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16.08.2021 – Luigi Nono, „Intolleranza 1960“ bei den Salzburger Festspielen

Stand: 16.08.2021, 09:30 Uhr

167 Personen auf der Bühne aus 40 Nationen. Das liest man in einer Projektion zu Beginn der Premiere von Luigi Nonos szenischer Aktion „Intolleranza 1960“. Möglichst viele Menschen aus möglichst viele Nationen, darauf kommt es dem Regisseur Jan Lauwers ausdrücklich an, also auf einen quantitativen Multikulturalitätsausweis.

Das gilt für die Solisten mit Sean Panikkar (indisch-amerikanisch) als Hauptfigur des emigrante, Musa Ngqungwana (Südafrika) in der Rolle des torturato, Antonio Yang (Südkorea) als algerino. Das gilt für eine große Schar an Tänzern aus vielen Nationen, und so gesehen sind ja auch der Wiener Staatsopernchor und die Wiener Philharmoniker irgendwo multikulturell.

Szene aus „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono

Szene aus „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono

Alle diese Menschen sind während knapp eineinhalb Stunden immer auf Bühne und wollen bewegt werden. Jan Lauwers und sein Choreograf Paul Blackman tun dies durch eine Mischung aus Ausdruckstanz und Handlungsballett, bei dem man die von Nono vorgesehenen Szenarien wie Demonstration, Verhör, Folter, Flucht und Flut durchaus wiedererkannte. Trotzdem geriet das Geschehen auf Dauer doch recht unübersichtlich. Denn in „Intolleranza 1960“ werden auch echte persönliche Konflikte und Konstellationen gezeigt. Z.B. die Frau, die den Emigranten, der in seine Heimat zurück und sie verlassen will, verflucht. Oder seine spätere Begleiterin, in der der Emigrant „eine entschlossene Stimme der Hoffnung in seiner Einsamkeit“ hört. Diese Szenen ereigneten sich auf der be- oder übervölkerten Bühne eher beiläufig. „Intolleranza 1960“ lebt aber gerade von der Spannung, die sich aus der Betrachtung des Einzelschicksals eines nur zufällig in eine Demonstration geratenen, dann verhafteten und gefolterten, und zum Freiheitskämpfer werdenden Minenarbeiters und Nonos plakativer Demonstration schlimmer Verhältnisse ergibt, eine Spannung, die Lauwers nicht zeigen konnte. Er hat sich von der aufdrängenden Aktualität geradezu überwältigen lassen, und es stimmt ja auch, dass die realen Geschehnisse, die Nono 1960 im Blick hatte, wie Algerienkrieg, Grubenunglück, Überschwemmungen, Polizeistaat, sich ja ganz leicht aufs Heute beziehen und mit einer transnationalen Haltung (Lauwers) verbinden lassen.

Der Dirigent Ingo Metzmacher ließ ich von dieser Überwältigungsstrategie, so hatte man den Eindruck, auch musikalisch mitreißen. Die Klangmassenerzeuger wie Hauptorchester, Perkussionsgruppen rechts und links, Chor als Zuspiel und Chor direkt und zentral, wollen musikalisch genauso gebändigt und koordiniert werden wie die körperlichen Bewegungen. Ein klanglicher Totaleindruck stellte sich dann vor allem bei den scharfen Orchesterattacken in den Zwischenspielen ein, mit denen das Stück gegliedert wird. Die zarten, zerbrechlichen Töne, die es Nonos Partitur auch gibt, wurden durch die ständigen Bewegungsgeräusche der Tänzer meistens zugedeckt.

Zu Beginn des zweiten Teils hat Nono eine musikalische Leerstelle gelassen, in der, wie es heißt, „Absurditäten des gegenwärtigen Lebens“ gezeigt werden sollen. Lauwers hat dort eine neue Figur eines blinden Dichters eingeführt, der ein Gedicht von ihm selbst rezitiert, in dem es um Lachen, Erzählen, und Verstummen im Angesicht von Flüchtlingsschicksalen geht. Diesen Dichter spielt Victor Afung Lauwers. Wie er den ganzen Abend zitternd in leicht erhöhter Position dasteht, bis er endlich sprechen darf, ist eindringlicher und berührender als alle Tanztheaterwucht.

Wer Nonos „Intollerenza“ musikalisch intimer und vor allem auch klanglich prägnanter erleben möchte, muss auf einer Wiederaufnahme der jüngsten Produktion in Wuppertal mit dem Dirigenten Johannes Harneit hoffen (Opernblog 05.06.2021), bei der Dietrich W. Hilsdorfs Aktualitätsbezüge denen von Lauwers in nichts nachstehen.

Premiere: 15.08.2021

Besetzung:
Un emigrante: Sean Panikkar
La sua compagna: Sarah Maria Sun
Una donna: Anna Maria Chiuri
Un algerino: Antonio Yang
Un torturato: Musa Ngqungwana
The Blind Poet: Victor Afung Lauwers
Performer: Sung-Im Her, Misha Downey, Yonier Camilo Mejia (Needcompany)
Tänzer und Tänzerinnen von BODHI PROJECT und SEAD — Salzburg Experimental Academy of Dance

Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Mirjam Sori Pfeifer / Leah Manning Sopran
Wiener Philharmoniker

Musikalische Leitung: Ingo Metzmacher
Choreinstudierung: Huw Rhys James
Bühne und Video: Jan Lauwers
Choreografie: Jan Lauwers, Paul Blackman
Kostüme: Lot Lemm
Licht und Video: Ken Hioco
Sounddesign: Paul Jeukendrup
Dramaturgie: Elke Janssens, Kasia Tórz