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30.06.2019 – „L’Africaine“ nach der Grand opéra von Giacomo Meyerbeer am Theater Halle

Stand: 30.06.2019, 13:50 Uhr

Am Theater Halle ist jetzt ein großangelegtes, vierteiliges Projekt mit dem Titel „L’Africaine“ zu Ende gegangen. „L’Africaine“ ist der Titel einer Mammutoper von Giacomo Meyerbeer, die ungekürzt eine Spieldauer von vier Stunden hat.

Meyerbeers Oper ist die Vorlage aller vier Teile, die Titel tragen wie „Fotouona Djami Yélé – Auseinandersetzung mit den Ahnen“ oder „Boo a San Pkaminé – Versöhung“. Dann gibt es noch den Teil „Reinigung“ und zum Schluss „Verwandlung“ jeweils auch mit afrikanischer Überschrift. Jeder dieser Teile ist eine eigene Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit Europas. Dazu bietet Meyerbeers Oper eine Steilvorlage. Der Titelheld Vasco da Gama spielte um die Wende zum 16. Jahrhundert eine wesentliche Rolle bei der Entdeckung der Seewege nach Afrika und Indien. In der Oper führt er schwarze Sklaven nach Hause, die er als dienstbare Gehilfen benutzt.

Bei dem Teil „Verwandlung“ haben sich die Akteure, das sind der afrikanische Regisseur Lionel Poutaire Somé und die deutsche Regisseurin Nina Gühlsdorf, die Aufgabe gestellt, die Oper zu afrikanisieren, wie der Conferencier am Anfang erklärt. Es geht sozusagen um eine umgekehrte künstlerische Kolonialisierung oder besser um eine Entkolonialisierung.

Das geschieht aber nicht durch eine Durchmischung der musikalischer Idiome verschiedener Kulturen. Ausschnitte aus Meyerbeers Oper erklingen in vollem Ornat: großes Orchester, ganze Arien, riesige Chortableaus. Dazwischen wird das Geschehen von zwei afrikanischen Protagonisten immer wieder kommentiert. Dazu hat der südafrikanische Komponist Richard van Schoor Zwischenmusiken geschrieben, die in ausdruckshafter Atonalität ein wenig an Schönberg oder Alban Berg erinnern. Da werden z. B. Klischees über Blackfacing und Bleaching verhandelt oder Vasco da Gama als Wirtschaftsflüchtling bezeichnet.

Obwohl nur wenige Nummern von Meyerbeer aufgeführt werden, bekommt man erstaunlicherweise trotzdem die Handlung der Oper mit. Sie erscheint dann freilich in ihrer eurozentristischen, für das 19. Jahrhundert typischen, aber in diesem Zusammenhang unsäglichen Borniertheit. Und wenn von Afrikanisierung der Oper die Rede ist, kann Christoph Schlingensief mit seinem „Operndorf Afrika“ nicht weit sein, auch in Halle nicht, wo seine Videos in die Aufführung eingespielt werden.

Lionel Somé, Solisten und Chor der Oper Halle in „L’Africaine“ nach G. Meyerbeer am Theater Halle

Lionel Somé, Solisten und Chor der Oper Halle in „L’Africaine“ nach G. Meyerbeer am Theater Halle

Aber dann erscheint Lionel Poutaire Somé auf der Bühne und verkündet, die Oper lasse sich nicht afrikanisieren, um Afrika zu erfahren, müsse man dort hin. Das Ganze müsse beendet werden. Matthias Koziorowski als Vasco da Gama in putziger Siegfried-Montur und immer einen Globus in der Hand haltend geht dazwischen, er wolle wenigstens noch seine große Arie singen und schmettert mit schmachtenden Tenorstimme „Pays merveilleux“. Man stellt augenzwinkernd fest, dass der kolonialistische Unsinn in dieser Oper für ein paar Momente egal sei, wahrscheinlich weil die Musik so schön sei, was gar nicht despektierlich gemeint war und was tatsächlich auch der Eindruck des Zuschauers war, aber eben auch eine alte Erkenntnis. Und dann darf Romelia Lichtenstein Königin Sélika noch „O temple magnifique!“ singen. Schön ist nicht nur die Musik, sondern auch, dass die Aufführung Tempo und Witz hat und keine Moralkeule geschwungen wird.

Premiere von Teil IV: 21.06.2019, besuchte Vorstellung: 29.06.2019, noch am 07.07.2019

Besetzung:
Vasco da Gama: Matthias Koziorowski
Sélica: Romelia Lichtenstein
Inès: Liudmila Lokaichuk
Don Pédro: Daniel Blumenschein
Nélusco: Gerd Vogel
Hase mit Schluckauf (Conferencier): René Michaelsen
Yeri Kuon (Managerin): Rosina Kaleab
Bonaventure Mounkar (Geologe): Serge Fouha
u.v.a.
 
Chor und Extrachor der Oper Halle
Staatskapelle Halle

Musikalische Leitung: Michael Wendeberg
Musikal. Arrangements / Komposition: Richard van Schoor
Inszenierung:  Lionel Poutiaire Somé, Nina Gühlstorff
Video: Lionel Poutiaire Somé
Texte: Lionel Poutiaire Somé, Thomas Goerge, Nina Gühlstorff
Ausstattung: Daniel Angermayr
Raumbühne: Sebastian Hannak
Sound Design: Abdoul Kader Traoré
Dramaturgie: Philipp Amelungsen
Projektkoordination: Michael v. zur Mühlen
Chor: Markus Fischer