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26.08.2018 – Charles Ives / Christoph Marthaler – „Universe, Incomplete“ bei der Ruhrtriennale

Stand: 26.08.2018, 13:50 Uhr

In seiner „Universe Symphony“ wollte Charles Ives das ganze Universum vertonen, von der Erschaffung der Erde, wenn Wasser und Land sich scheiden, über die Menschheits- und Naturgeschichte bis zur Verklärung alles Irdischen im Himmel. Das visionäre Werk ist Fragment geblieben. Ives ermunterte dazu, es zu vollenden. Er war aber zugleich auch ein Komponist, der nicht nur das große Ganze in Blick nahm, sondern mit den volksmusikalischen Traditionen Amerikas spielerisch umging, Blasmusik für Marching Bands schräg arrangierte, zu Herzen gehenden Christmas Carols und Lieder schrieb, konzise Streichquartette, als ob er Beethoven und Brahms verlängern wollte oder Klavierduos, bei denen die Instrumente um einen Viertelton gegeneinander verstimmt sind.

Diesem musikalische Spektrum haben Christoph Marthaler, die Bühnenbildnerin Anna Viebrock und der Dirigent Titus Engel in der riesigen Bochumer Jahrhunderthalle bei der Ruhrtriennale Platz gegeben, zeitlich wie räumlich, durch zweieinhalb Stunden Spieldauer ohne Pause und durch Räume, die durchschritten, von Eisenbahnloren durchfahren und durch Tribünen, Brücken und Galerien ausgestaltet werden. Das 100-Personen-Orchester der Bochumer Symphoniker spielt zunächst unsichtbar aus der Ferne, dann marschieren sie in einer nicht enden wollenden Schlange auf die im Rücken der Zuschauertribünen befindliche Stahlbalustrade des historischen Industriebaus und spielen Ives‘ vielleicht berühmtestes Stück „The Unanswered Question“ mit dem fragenden Trompetensolo.

Unmittelbar vorher hört man noch das zweite Streichquartett. Die Schauspieler hören auf zu spielen, sind zu Skulpturen mit offenen Mündern erstarrt. Der Abend geht als Konzert zu Ende, und Marthaler setzt so die Musik in einer bescheidenen Geste in ihr Recht.

"Universe, Incomplete" in der Jahrhunderthalle Bochum

"Universe, Incomplete" in der Jahrhunderthalle Bochum

Aber auch vorher regiert die Musik. Einmal wird die Marching Band in Knickerbockerhosen langsam auf den Schienen durch den Raum gezogen, so dass man sich an den skurrilen Figuren und der Art, wie sie Musik machen, erheitert und trotzdem genau zuhören kann. Zwei Klaviere sind vielleicht 50 Meter voneinander entfernt postiert, so dass sich die Vierteltonverstimmung auf einmal in einen Raumklang aufspreizt. Dann wieder postieren sich die Darsteller in einem Kreis und singen im Pianissimo einen melancholisch-schönen Chorsatz, dadurch absolut konzentriert und aufeinander bezogen.

Die szenischen Setzungen von Marthaler haben so immer eine musikalische Funktion, selbst dann wenn zu den wuchtigen Tönen des Symphonieorchester die Darsteller schmerzverzerrte Verrenkungen machen oder ihre Körper knäulen und so das Kreatürliche das Komponierte konterkariert. Oder wenn ein Tubist in der Halle umherirrt und nicht weiß, ob er sich zur Marching Band oder zu den Symphonikern gesellen soll und damit auf das Disparate in Ives Musik verweist.

Eine Handlung gibt es nicht, aber viele humoristisch tiefsinnige Anspielungen. Am Anfang müssen sich alle Darsteller einer langwierigen Personenkontrolle unterziehen, bevor sie die Halle betreten dürfen. An einer die ganze Länge der Halle einnehmenden Tafel wird stumm gestikuliert und debattiert, als sei die Zeit des Diskurses vorbei. Dann hört man ein kakophonisches Sprachengewirr und lakonische Gedichte von Gerhard Falkner wie „Ich habe zu wenig geschlafen in diesem Jahrhundert / Ich habe zu wenig geredet…“.

Dieser Abend über Charles Ives zeigte eindrucksvoll, was die Ruhrtriennale auszeichnet: Theater, das die Sparten von Oper, Schauspiel und Tanz überschreitet, Kreationen, wie es Gerard Mortier, der Gründungsintendant des Festivals vor 16 Jahren bezeichnete. Für Stefanie Carp, der derzeitigen Intendantin, war dieser Abend ein wichtiger Erfolg, nachdem sie, nicht ganz unverschuldet, in eine politische Debatte geraten war, weil sie die schottische Hiphop-Band Young Fathers eingeladen hatte, die man mit antisemitischen Tendenzen in Zusammenhang gebracht hatte.

Premiere: 17.08.2018, besuchte Vorstellung: 25.08.2018

Besetzung:
Regie: Christoph Marthaler
Musikalische Leitung: Titus Engel
Bühne: Anna Viebrock, Thilo Albers
Kostüme: Anna Viebrock
Co-Regie: Joachim Rathke
Co-Kostüm Charlotte Pistorius
Licht: Phoenix (Andreas Hofer)
Dramaturgie: Malte Ubenauf
Arrangements: Tobias Schwencke