24.07.2018 - Toshio Hosokawa, „Erdbeben. Träume“ in Stuttgart

Stand: 24.07.2018, 13:50 Uhr

Das Berührende und dann Erschreckende in der Novelle „Das Erdbeben von Chili“ von Kleist liegt wohl darin, dass das verfemte und zum Tode verurteilte Liebespaar Josephe und Jeronimo sich nach dem Erdbeben in einer naturhaften Idylle wiederfindet und für einen Moment glaubt, dass die Überlebenden eine neue versöhnliche und friedfertige Menschengemeinschaft bilden, dann aber doch zu Sündenböcken gemacht und gemordet werden. In der Adaption von Marcel Beyers Libretto für Toshio Hosokawas Oper „Erdbeben. Träume“ ist von diesem weltgestaltenden Doppelaspekt wenig übrig geblieben.
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In seiner durchaus poetischen Sprache konzentriert sich Marcel Beyer auf ein ständiges Changieren zwischen Traumwelt und Realität, das Philipp, der überlebende Sohn des Liebespaares, durchlebt, wunderbar dargestellt von der japanischen Schauspielerin Sachiko Hara in einer stummen, am Nō-Theater orientierten Rolle. Dieser Philipp ist nun das Ziehkind von Fernando und Elvire, die das Massaker überlebt haben. Beide Paare treten in einem ständigen Hin- und Her zwischen bildhafter Retrospektive und klarsichtiger Reflexion, zwischen angstgespeister Introspektion und detailgenauer Chronik auf. Man könnte von Traumatabearbeitung sprechen, die dieser Philipp vollzieht.

Toshio Hosokawa, „Erbeben. Träume“

Toshio Hosokawa, „Erbeben. Träume“

Der Text von Beyer schlägt sich aber nicht auf einseitig auf eine psychologische Seite, aber auch nicht auf eine dokumentarische. Als solcher wirkt der Text unvollständig. Insofern ist er aber ein gutes Libretto. Hosokawa hat seine Rolle ebenfalls mit einem Begriff aus dem Nō-Theater beschrieben. Seine Musik sei der Hashigakiri, jener Steg im Nō-Theater, der überhaupt erst das Changieren zwischen Jenseits und Diesseits ermöglicht. Kennzeichen von Hosokawas Musik ist dabei eine Art von unaufdringlicher Dringlichkeit. Da gibt es, da die Fukushima-Katasrophe von 2011 in dieser Oper immer mitschwingt, z. B. einen Orchestermonolog, der das Erdbeden und den Tsunami darstellen soll. Die Klänge sind eher zart und von innen bedrohlich. Oder die „Abschieds-Arie“ von Elvire. Das ist reinste Vokalkammermusik mit einem Harfensolo wie ein Lautenlied von Dowland, aber von melancholisch-schöner, absolut kitschfreier Wirkung. Die anderen Orchestermonologe wirken dann fast symphonisch. Sie entfalten eine satztechnische und melodiöse Vielfältigkeit und einen langen Phrasenatem. Das wirkt so, weil das Deklamieren der Sängern und Begleiten der Instrumente sonst meist in langgezogenen Liegetönen und flächigen Akkorden passiert, unter deren Oberfläche sich ein vegetatives Klangleben ereignet, als ob der Komponist seine gestaltende Hand davon gelassen hätte, was natürlich nicht der Fall ist. Ebenso nicht bei Sylvain Cambreling, dem dirigierenden, ebenbürtigen Sachwalter Hosokawas.

Hosokawa hatte 2016 in Hamburg mit „Stilles Meer“ schon einmal eine Fukushima-Oper herausgebracht. Damals ging es darum, ob japanische Rituale einer deutschen Witwe bei ihrer Trauerbewältigung helfen können. „Erdbeben. Träume“ ist literarisch, geschichtlich und musikalisch weit größer angelegt.

Es ist ein Auftragswerk der Stuttgarter Staatsoper und die letzte Produktion unter der Intendanz von Jossi Wieler, der zusammen mit Sergio Morabito in einem Bühnenbild ihrer langjährigen Mitstreiterin Anna Viebrock Regie führte. Da war mehr Fukushima zu sehen als bei Beyer und Hosokawa, was man aber als stimmige Fortschreibung lesen konnte. Die Bühne ist eine Betonruine, die mal als Unterschlupf dient, mal als Altar oder Podest. Hinten gibt es einen Steg, der von dem meuchelnden Menschen bevölkert wird. Sie tragen grelle Warnwesten, Plastiksäcke oder zusammengeklaubte Alltagskleidung, was die eigentlich zu sehenden Trostlosigkeit in eine bunte Unbekümmertheit taucht und das Morden willkürlich und beliebig erscheinen lässt wie ein zufälliges Abgleiten in eine kollektive Wahnsinnstat.

Uraufführung: 01.07.2018, besuchte Vorstellung: 23.07.2018

Besetzung:
Josephe Asteron: Esther Dierkes
Jeronimo: Dominic Große
Elvire: Sophie Marilley
Fernando Ormez: André Morsch
Constanze: Josefin Feiler
Pedrillo: Torsten Hofmann
Anführer der sadistischen Knaben: Benjamin Williamson
Philipp: Sachiko Hara

Staatsopernchor Stuttgart
Kinderchor der Oper Stuttgart
Knabenchor collegium iuvenum Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart,

Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling
Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Bühne und Kostüme: Anna Viebrock
Licht: Reinhard Traub
Chor und Kinderchor: Christoph Heil