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22.03.2018 – Peter Eötvös, "Angels in America" in Münster

Stand: 22.03.2018, 13:50 Uhr

„Angels in America“, Tony Kushners Theaterstück von 1992, ist in den USA inzwischen ein Klassiker, Schullektüre und Repertoirestück auf den Bühnen des Landes. Die Handlung spielt im Schwulenmileu der Reagan-Zeit. Hauptfigur ist Prior Walter, von dem sich sein Freund Louis trennt, weil er mit dessen AIDS-Krankheit nicht umgehen kann.

Prior Walter erscheint später ein Engel, der ihm aufträgt, die Welt zu retten, was er ablehnt. Louis verliebt sich in Joe Pitt, einen strenggläubigen, verheirateten Mormonen, der sich zu einem Coming-out gequält hat. Schließlich gibt es noch der Schurkenanwalt Roy Cohn, eine reale Figur, der als junger Staatsanwalt und Gefährte von McCarthy das Ehepaar Rosenberg auf den elektrischen Stuhl schickte. Auch er ist an AIDS erkrankt, was er sich nicht eingesteht.

Aus dieser Konstellation hat Peter Eötvös 2004 eine Oper gemacht, die einerseits ganz nah am Theaterstück bleibt: Kaum je sind die Dialoge - und es sind vor allem Dialoge - musikalisch überformt, sondern immer klar verständlich. Eötvös bewahrt den Deklamationsfluss bis hin zum reinen Sprechtheater und fordert sogar, dass die Stimmen elektronisch verstärkt werden, was in Münster perfekt gelingt.

Andererseits ist die Musik nicht nur eine koloristische Beigabe. Die 16 Instrumente liefern etwas dem Wagnerschen Orchester mit seiner dramatischen Kommentierungsfunktion durchaus Ähnliches, wenngleich in avancierter Tonsprache. Die Musik kann akkordisch und hymnisch klingen, wenn Prior Walter sein Prophetentum ablehnt oder drängend rhythmisch wie ein Walkürenritt, wenn Joes Frau Harper mit einem Eisbären (in Phantasie) kopuliert. Die Szenen gewinnen durch die Musik eine neue Präsenz und Brillanz, vor allem auch durch das engagierte und sehr gut geprobte Spiel der Mitglieder des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Was übrigens auch für das achtköpfige Solistenensemble gilt, allen voran Christian Miedl als Prior Walter und Kathrin Filip als sein Engel.

Kathrin Filip als Angel und Christian Miedl als Prior Walter in "Angels in America"  von Peter Eötvös

Kathrin Filip als Angel und Christian Miedl als Prior Walter in "Angels in America" von Peter Eötvös

Durch Eötvös' musikalisch-szenische Anreicherungen lässt sich Kushners mehrstündiges Schauspiel auf gut zwei Stunden Spieldauer kondensieren, ohne dass man etwas vermissen würde. Dazu kommt, dass Eötvös' Musik in dieser Oper vielgestaltiger und auch interessanter ist als in seinen späteren Musiktheaterwerken wie "Die Tragödie des Teufels" oder "Der goldene Drache".

Eötvös' wesentlicher dramaturgischer Einfall besteht darin, im zweiten Teil an die Stelle von realistischen Schilderungen, Engelsvisionen märchenhaft auszubreiten, die im ersten Teil immer nur episodenhaft aufblitzen. Vor der Pause war Prior Walters gekrönter Engel nur einmal kurz erschienen. Danach führt er den AIDS-Kranken in eine Phantasie-Gesellschaft, die vom Bühnen- und Kostümbilder Christophe Ouvrard einer "Alice in Wonderland"-Welt nachempfunden ist. Hier wird es dann richtig opernhaft, durchaus auch mit einer Musik, die mehr Platz und Gewicht beansprucht als im ersten Teil.

Dort führen der Regisseur Carlos Wagner und sein Ausstatter die Personen durch eine triptychonartige Anlage mit Waschsalon, einem Pissoir in der Mitte und einem Burger-Restaurant rechts. Nach der Pause sieht man nur noch drei Krankenhausbetten, das von Prior Walter der Mitte, links das neue Liebespaar Joe und Louis und auf der rechten Seite der immer noch seine Krankheit leugnende Anwalt Cohn.

Das dahinter liegende Thema der Oper ist das Changieren zwischen Wahn und Wirklichkeit. Es bleibt offen, ob die Engel real sind oder Visionen der Kranken. Carlos Wagner bringt hier klugerweise ein komisches Element hinein, denn auch die Dialoge sind selbst an vielen Stellen schon skurril oder ironisch: Einmal steigt ein Engel aus der Waschmaschine, ein anderer schwebt am Fenster als Astronaut, und die Vorfahren von Prior Walter, die ihm sagen, die Pest-Epidemie sei viel schlimmer gewesen, sind Marionetten im Barockkostüm.

In der handwerklich und künstlerisch ausgezeichneten Aufführung in Münster kommen alle drei Elemente des Stücks zum Vorschein: das Zeitgeschichtliche, das Tragisch-Persönliche und eine theatralische und musikalische Prägnanz.

Premiere: 24.02.2018, besuchte Vorstellung: 21.03.2018, noch bis zum 18.04.2018

Besetzung:
The Angel: Kathrin Filip
Harper Pitt: Kristi Anna Isene
Hannah Pitt: Suzanne McLeod
Joseph Pitt: Filippo Bettoschi
Prior Walter: Christian Miedl
Louis Ironson: David Zimmer
Belize: Yosemeh Adjei
Roy Cohn: Christoph Stegemann
Sopran: Melanie Spitau
Alt: Barbara Bräckelmann / Christina Holzinger
Bariton: Frederik Schauhoff

Sinfonieorchester Münster

Musikalische Leitung: Golo Berg
Inszenierung: Carlos Wagner
Bühne & Kostüme: Christophe Ouvrard
Dramaturgie: Ronny Scholz