Die Konzertreihe "Musik der Zeit" - Zeitreise in Bildern

Von Harry Vogt

Bewegende Momente aus sieben Jahrzehnten der legendären WDR-Konzertreihe "Musik der Zeit": Unsere Fotostrecke zeigt Meilensteine der Neuen Musik, angefangen mit Karlheinz Stockhausens Kult-Konzert von 1956, als er erstmals Musik ohne Musiker mit rein synthetischen Klängen aufführte.

Geburt der Elektronischen Musik - Konzert ohne Orchester im Funkhaus

1956: Unerhörte Musik
Das Studio für Elektronische Musik des WDR ist untrennbar mit der Reihe "Musik der Zeit" verknüpft. Das legendäre Labor ist weitaus mehr als nur eine technische Einrichtung. Es ist ein Ort der Begegnung, der heißen Diskussionen und Debatten, ein Symbol für die innovative Ausstrahlung des Kölner Senders insgesamt. Gespenstisch mutet schon die Versuchsanordnung an. Bei diesem Konzert im Mai 1956 sitzt kein Orchester auf der Bühne. Dafür stehen dort vier Lautsprechertürme, "die Seitenwände waren mit Lautsprechern tapeziert, und selbst an der Rückwand hingen noch ein paar", schreibt der Mannheimer Morgen. Das alles, um erstmals Musik ohne Musiker mit rein synthetisch erzeugten Klängen aufzuführen. Das Ereignis wird entsprechend heiß diskutiert. Es ist allein schon wegen der heftigen Publikumsreaktionen – "Pfiffe und Proteste (neben demonstrativem Beifall)" – in die Historie eingegangen. Im ausverkauften Großen Sendesaal werden sieben neue Arbeiten des Studios vorgestellt, darunter Karlheinz Stockhausens "Gesang der Jünglinge", der längst Kultstatus genießt. Stockhausen, der 1962 die Leitung des Studios von seinem Mentor Herbert Eimert übernimmt, realisiert hier in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Werke, einschließlich großer Teile seiner Opern-Heptalogie "Licht".

Luigi Nono 1956 zu Gast im Funkhaus

1956: Im Zeichen des Engagements – Luigi Nono
Luigi Nono 1956 zu Gast im Funkhaus: Auf dem Programm steht die Uraufführung von Nonos "Canto sospeso". Die Bekenntnis- und Mahn-Musik wird im Oktober 1956 im Kölner Funkhaus unter der Leitung von Hermann Scherchen aus der Taufe gehoben, über die Jahre mehrfach wiederholt und exportiert. 1971 lässt Nono, ebenfalls auf Bestellung des WDR, das klassenkämpferische "Ein Gespenst geht um in der Welt" folgen, in dem "internationale Klassensignale" anklingen. Im Mai 1975 dirigiert der Nono-Freund Claudio Abbado Fragmente aus der Oper "Al gran sole carico d'amore". Zu den sechs WDR Aufträgen an Nono gehören als typisches Spätwerk die "Risonanze erranti" (1986), ein Abschied mit zerbrechlichsten, in Raum und Zeit "umherirrenden Echos". Im April 1990 – einen Monat vor seinem Tod – widmet der WDR Nono ein Wochenende, um sieben seiner späten Werke vorzustellen. Posthumes Nachspiel: 2000 wird "Diario italiano" (1964), ein Chortableau für 72 Stimmen aus Nonos Nachlass, von den Radiochören aus Köln und Stuttgart unter Rupert Huber uraufgeführt, vier Jahre später sind die frühen "Due liriche greche" (1949) im Rahmen eines Nono-Schwerpunktes erstmals zu hören.

Dirigenten-Triumvirat, v.l.: Pierre Boulez, Bruno Maderna, Karlheinz Stockhausen

1958: Epochale Raummusik – Stockhausens Gruppen
Die Uraufführung von Stockhausens "Gruppen für drei Orchester" im März 1958 trägt alle Merkmale einer Sensation. Fachleute aus ganz Europa reisen nach Köln, um das Ereignis hautnah zu erleben. Stockhausens Gruppen eröffnen ein neues Kapitel der "Musik im Raum". Tatort ist ausnahmsweise nicht das WDR Funkhaus, sondern der Rheinsaal auf dem Messegelände in Deutz, der genug Platz bietet, um das Orchester in drei Gruppen aufzustellen. Stockhausens epochales Werk entwickelt sich schon bald zum "Exportschlager". Trotz des großen Aufwandes wird es vielfach nachgespielt: vom WDR 1959 in Wien, 1965 auf einer Tournee in München, Brüssel, Paris und Zagreb. 1997, vierzig Jahre nach der Premiere, gibt es am gleichen Ort unter Leitung von Arturo Tamayo, Peter Eötvös und Jacques Mercier ein "Remake". Das Stück ist ein Meilenstein der Musikgeschichte. György Kurtág, der die Kölner Uraufführung besucht, dazu: "Wenn Dostojewski gesagt hat, die ganze russische Literatur komme aus dem Mantel von Gogol, dann kommt die ganze Musik des 20. Jahrhunderts nach 1950 aus Stockhausens Gruppen."

Der Dirigent Hans Werner Henze, links, 1963 im Gespräch mit Otto Tomek

1963: In eigener Sache – Hans Werner Henze
Hans Werner Henze ist durch eine fast schicksalhafte Beziehung mit dem Kölner Sender verbunden. Das WDR-Orchester kümmert sich "in freundschaftlicher Regelmäßigkeit von Anfang an" um seine Musik, wie sich Henze rückblickend erinnert. Im Laufe von fünf Jahrzehnten werden insgesamt 16 Henze-Werke vom WDR aus der Taufe gehoben. Angefangen 1949 mit den frühen Ballett-Variationen, 1957 folgt die Suite aus dem Tanzdrama Maratona, in dem der junge Henze mit dem Jazz liebäugelt, ein Jahr später, ebenfalls unter Hans Rosbaud, die Drei Dithyramben. 1967 leitet Christoph von Dohnányi, der WDR Chefdirigent, die Uraufführung von "Los Caprichos". In den 70er Jahren entstehen auch mehrere Fernsehproduktionen (u.a. Préludes für Klavier, Zuspielbänder und Orchester). Und gelegentlich tritt Henze in eigener Sache ans Pult. Etwa im Falle der Giordano Bruno-Kantate "Novae de Infinito Laudes", die Henze, der "vor Lampenfieber vergeht", 1963 im venezianischen Teatro la Fenice dirigiert.

Dialoge am Orchestergraben: Zimmermann, links, mit dem Dirigenten Michael Gielen

1965: Dialoge am Orchestergraben - Bernd Alois Zimmermann
Das Leben und Werk keines anderen Komponisten ist so stark mit der Geschichte des WDR verbunden: Zimmermann hält sich in den 50er Jahren vorwiegend durch Radioarbeiten – Arrangements und Hörspielmusiken – "über Wasser". Sein spezifischer "Ton" wäre ohne kaum vorstellbar. Das Foto entsteht im Februar 1965, während der Proben für "Die Soldaten". Die Oper, die als eines der bedeutendsten Bühnenwerke des 20. Jahrhunderts gilt, wird zunächst vom Auftraggeber, der Kölner Oper, als unspielbar abgelehnt. Den Weg für die Welt-Karriere ebnet die Soldaten-Sinfonie, die Zimmermann aus dem Opus extrahiert und die WDR Orchester 1963 unter Leitung von Jan Krenz im Funkhaus aus der Taufe gehoben wird. Dass Zimmermann – mit dem Konzert für Streicher (1947) und der Sinfonie (1951) – die ersten Werke schreibt, die im WDR uraufgeführt bzw. in Auftrag gegeben werden, ist kein Zufall. Auf Bestellung des Kölner Senders entstehen bis zu seinem frühen Tod (1970) mehrere bedeutende Werke: 1953 das Cellokonzert "Canto di speranza", 1958 die Kantate "Omnia tempus habent", 1960 Dialoge für zwei Klaviere und Orchester. Auch das späte Requiem für einen jungen Dichter (1967-69), in dem seine Erfahrungen zu einem radiophonen Gesamtkunstwerk zusammenfließen, geht auf Initiative des WDR zurück.

Klangmassen – Uraufführung im Dom zu Münster

1966: Dissonanzen im Dom - Pendereckis Lucas Passion.
Der 30. März 1966 ist ein für Münster und für Krzysztof Penderecki gleichermaßen denkwürdiger Tag. Der polnische Komponist wird mit der Uraufführung seiner Lucas Passion über Nacht berühmt. Münster hingegen schreibt an diesem Abend nicht bloß Musik-, sondern auch Kirchen- und Zeitgeschichte. Der Stellenwert dieses Werkes, für das der WDR anlässlich der 700-Jahrfeier des Doms zu Münster den Auftrag erteilt, ist sich Penderecki schon bald bewusst: "Ich glaube, es wird meine bisher wesentlichste Komposition werden", wie er damals an den Redakteur Otto Tomek schreibt, der die Reihe Musik der Zeit von 1957 bis 1971 leitet. Die Partitur wird in buchstäblich letzter Minute erst fertig und von Tomek höchstpersönlich im Januar 1966 in Polen entgegen genommen. Die fehlenden acht Takte der Sopranpartie reicht der Komponist nach – auf einer Postkarte an die Solistin. Pendereckis Lucas-Passion macht eine rasante Karriere: Zwölf Monate nach der Uraufführung liegt das Werk bereits in zwei Einspielungen vor, bereits viermal ist es vom WDR ausgestrahlt worden und es hat zweistellige Aufführungszahlen vorzuweisen.

Raumgreifendes Requiem im großen Sendesaal

1967: Expandierte Bühne: Ligetis Requiem
Für die deutsche Erstaufführung des Requiems von György Ligeti 1967 müssen im großen Sendesaal die ersten Sitzreihen ausgebaut werden, um die geforderten Klang-Massen – zwei Solisten, zwei Chöre und Orchester – auf der expandierten Bühne unterzubringen. Ligetis Requiem (1963-1964) malt mit aufwühlenden Chorsätzen Szenen des Jüngsten Gerichts aus. Der ungarische Komponist bezieht sich "auf die apokalyptischen Gemälde von Pieter Brueghel, Hieronymus Bosch und auf Dürers Kupferstiche". Dabei ist Ligetis Requiem "kein liturgisches Werk" – den Text habe er gewählt "wegen seiner Bildkraft, mit der hier Bedrückung, Todesangst und Weltuntergang dargestellt wird". Ligeti kommt 1957 von Budapest nach Köln, angezogen durch Radiosendungen, die er in seiner Heimat hörte, "sozusagen als virgo intacta, also ohne eine Ahnung zu haben nicht nur von elektronischer Musik". Der "Zauber von Köln" habe ihn, wie er später bekennt, über die kurze Zeit in Köln hinaus entscheidend geprägt. Ligetis erster West-Eindruck nach seiner Flucht ist bestimmt von der besonderen Atmosphäre im Elektronischen Studio, wo seine Kompositionen Artikulation und Glissandi entstehen. Ligeti kehrt mehrere Male nach Köln zurück. 1976 zur Uraufführung seiner drei Stücke für zwei Klaviere; 1988 um eine Hauptrolle im Festival Musik und Maschine zu übernehmen; 1990, um im Rahmen der Begegnung der Diaspora mit Israel der Uraufführung seines Violinkonzerts beizuwohnen, in dem er sich auf der Basis reiner Stimmung ein neues harmonisches System erschließt.

Charlotte Moorman bespielt Nam June Paik als Cello-Ersatz

1970: Labor Funkhaus

Das Funkhaus des WDR war und ist immer wieder Ort für besondere Aufführungen der Reihe Musik der Zeit – jenseits des klassischen Konzertformats, mitunter auch jenseits der Studios und Sendesäle des Hauses. Seit den 70er Jahren werden für "Musik der Zeit" nicht nur Komponisten beauftragt, sondern auch Performancekünstler wie Charlotte Moorman nach Köln eingeladen. Die Amerikanerin tritt zusammen mit dem Koreaner Nam June Paik auf, der in den 60er Jahren bei der Fluxus-Bewegung mitmischt, später durch Videoarbeiten bekannt wird. Ein weitläufiges Wandelkonzert bringt bereits im Februar 1970 unter dem Motto "3 Stunden in 5 Räumen" das gesamte Funkhaus zum Klingen – vom Keller bis zu den Sitzungszimmern. Das Projekt findet im Januar 1972 eine Fortsetzung, wenn 14 experimentelle Ensembles das gesamte Gebäude bespielen. 1980 werden unter dem Titel Klangerzeuger instrumentale Innovationen vorgestellt, u.a. in Josef Anton Riedls Glas-Lichtspielen und Harry Partchs Oper "The Bewitched". Objekte der bildenden Künstler Günther Oeller oder Barnard Baschet werden im Foyer des Funkhauses von einem Schlagzeuger zum Klingen gebracht. Auch Jahrzehnte später noch reizt das geschichtsträchtige Radiohaus immer wieder zu künstlerischen Auseinandersetzungen und innovativen Formaten. 2001 erprobt Vinko Globokar sein Laboratorium im Funkhaus, bezieht dabei auch Foyer und Paternoster mit ein. Noch weiter geht 2007 Manos Tsangaris, der mit seinen "diskreten" Miniaturen das Haus neu erkundet und in Szene setzt.

WDR Klangkörper chorisch vereint

1976: Chorische Utopie
Luciano Berios Coro (1975-1976) für Stimmen und Orchester zählt zu den wichtigsten WDR Auftragswerken der Reihe "Musik der Zeit". Die Uraufführung 1976 bestreiten die WDR Klangkörper ausnahmsweise in Donaueschingen unter der Leitung des Komponisten. Berios Werk, in dem Vokalstimmen und Instrumente auf neuartige Weise ineinander verschachtelt werden, zählt längst zu den Meilensteinen der Moderne. Nach der Premiere wird es bei WDR Gastspielen in London, New York, Washington, Boston und Cleveland gespielt. 1996 erklingt es nochmal unter Berios Leitung in einer Benfizgala zum Wiederaufbau des venzianischen Teatro La Fenice in Köln. Luciano Berio ist seit 1954 mit seinen Hauptwerken in Köln vertreten. Sein frühes Konzept orchestraler Raummusik, "Allelujah I", wird 1956 von Michael Gielen aus der Taufe gehoben. Ebenso seine Epifanie nach einer von Umberto Eco zubereiteten Textmontage. Abgesang: Wenige Monate vor seinem Tod komponiert Berio im Auftrag des WDR "Sequenza XIV". Das Cellostück, das auch perkussive Passagen einbezieht, wird vom Widmungsträger, Rohan de Saram, im April 2002 in Witten erstmals gespielt.

Morton Feldman

1977: Neue Einfachheit?
Neue Einfachheit ist das Festival überschrieben, das im Januar 1977 läuft. Selten hat der Titel einer Veranstaltung solche Wellen geschlagen. Er scheint den Nerv der Zeit zu treffen und wird vor allem von der Fachkritik heiß diskutiert – fast mehr als die hier gespielte Musik. "Die elementare Vereinfachung des Klangbildes und die Verlagerung komplexer Struktur ins 'Innere' musikalischer Form und Aufführungspraxis" - so lautet der gemeinsame Nenner für Werke aus ganz unterschiedlichen ästhetischen Richtungen. Das Programm ist denkbar bunt gemischt, es vereint Stücke von Erik Satie, John Cage, Morton Feldman, Frederic Rzewski, Michael von Biel und Steve Reich, aber auch von Hans Zender, Bernd Alois Zimmermann und Mauricio Kagel, ergänzt durch traditionelle koreanische Musik. Von Morton Feldman erklingen "Elemental Procedures" für Sopran, Chor und Orchester. Der Titel des WDR Auftragswerkes scheint auf das Thema des Festivals zugeschnitten, doch schreibt Feldman am Ende ein – für seine Verhältnisse – "außergewöhnlich kompliziertes Stück. … Ich fand nicht, dass es dort hingehörte".

John Cage, links, und Mauricio Kagel: composing for radio

1987: Happy New Ears – NachtCageTag
Eine Überraschung der besonderen Art erlebt John Cage im Februar 1987: Zu seinem 75. Geburtstag beschert ihm der WDR eine Hommage in Form eines 24-stündigen Konzert- und Radioereignisses, das Non-Stop gesendet wird und in die Rundfunkgeschichte eingeht. Beim "NachtCageTag" wird am 14. und 15. Februar 1987 der übliche Sendebetrieb unterbrochen, 24 Stunden lang gilt das Programm ausschließlich dem Jubilar Cage. Mit Live-Konzerten und Live-Hörstücken, die im Wechsel mit Archivaufnahmen ein unvergessliches Gesamtkunstwerk entstehen lassen, das gemeinsam von den Redaktionen HörSpielStudio (Klaus Schöning) und Neue Musik (Wolfgang Becker) initiiert und durchgeführt wird. Der Marathon ist eine einzigartige Sympathieerklärung an Cage. Dabei wirken viele Freunde und Kollegen, Komponisten und Hörspielmacher aktiv mit, von Mauricio Kagel bis Gerhard Rühm. Zwanzig Komponisten – darunter Pauline Oliveros, Malcolm Goldstein, Nam June Paik, Dieter Schnebel und David Tudor – bereiten "Klanggeschenke" für das Geburtstagskind vor. Auch Cages 80. Geburtstag sollte im September 1992 festlich begangen werden. Doch die Uraufführung von Cages letztem großen Orchesterwerk 103, einer 90-minütigen, dirigentenlosen Etüde in instrumentaler Eigenverantwortung, erklingt zusammen mit dem Film "One 11" posthum – wenige Tage nach Cages Tod.

György Ligeti, links, und Conlon Nancarrow: Freunde musikalischer Feinmechanik

1988: Überwinder der Zeit
Ein weiteres Highlight der 80er Jahre ist das Festival Musik und Maschine im Oktober 1988. Erstmals in Europa ertönt die Musik des Amerikaners Conlon Nancarrow nicht vom Band, sondern direkt aus dem Instrument, für das sie geschrieben ist: dem "player piano". Im Rampenlicht der Kölner Philharmonie steht einmal nicht ein virtuoser Musiker, sondern ein Bösendorfer-Flügel mit Selbstspielvorrichtung. Dessen Tasten werden wie von Geisterfingern niedergedrückt, um Musik von Conlon Nancarrow zu spielen. Musik und Maschine ist das ganztägige Festival überschrieben, sieben Konzerte, in denen – vom Morgen bis in die Nacht – der Rausch der Geschwindigkeit und Präzision gefeiert wird: mit Werken von György Ligeti, George Antheil, Henry Cowell, ausgeführt wechselweise von Menschen und Maschinen. Einige "Studies for player piano" von Nancarrow werden in der Transkription von Yvar Mikhashoff vom Ensemble Modern gespielt. Nancarrows Streichquartett Nr. 3, das ebenfalls von hochkomplexen Kanons in irrwitzigen Tempi beherrscht wird und das im Auftrag des WDR entsteht, hebt das unerschütterliche Arditti Quartet aus der Taufe. Neben Nancarrow steht sein prominentester Fürsprecher im Mittelpunkt des Programms: György Ligeti, der aus Nancarrows mechanischer Musik Anregungen für eigene Werke bezieht.

Team-Work: Studioleiter York Höller, Mitte, mit Paolo Chagas und Volker Müller, 1991

1991: Wege elektronischer Musik
1990 bis 2000 übernimmt der Komponist York Höller die Leitung des Studios für Elektronische Musik. Sein erklärtes Ziel ist es, "Komponisten verschiedenster Couleur einzuladen, die ihre Ästhetik verwirklichen und nicht eine "Kölner Ästhetik" bedienen sollten." Höllers Einladung folgen in den 90er Jahren Komponisten ganz unterschiedlicher Prägung, darunter Jonathan Harvey, Marco Stroppa, John McGuire oder Luc Ferrari. "Wege elektronischer Musik" ist eine sechsteilige Werkschau überschrieben, die 1990 neue Tendenzen des Genres vorstellt. Zwei Neuproduktionen des Kölner Studios, von Jean-Claude Eloy und Denys Bouliane, werden konfrontiert mit Klassikern der "Kölner Schule" – von Höller, Kagel und Stockhausen – sowie einem Remake des legendären Konzertes vom Mai 1956, mit Stockhausens Gesang der Jünglinge und Kreneks Pflingstoratorium neben Stücken u.a. von Koenig und Eimert. Das Programm wird flankiert durch experimentelle Arbeiten und Improvisationen, die andere Zugänge zur Elektronik – fern von Studio und Hightech – erproben. Das Kölner Klanglabor feiert 2001 seinen 50. Geburtstag. In einer kompakten Hommage mit wegweisenden Arbeiten von Kagel, Stockhausen, Höller und Pagh-Paan, ergänzt durch ein neues WDR Auftragswerk von Johannes Kalitzke.

Iannis Xenakis, links, und Wolfgang Becker: Funkhausgespräch, 1996

1995: Klangarchitekt Xenakis
Den griechischen Komponisten und Architekten verbindet ebenfalls eine lange Geschichte mit dem WDR. Iannis Xenakis schreibt auf Bestellung des Kölner Senders im Laufe von drei Jahrzehnten eine Reihe wichtiger Werke. Fulminanter Auftakt der Zusammenarbeit mit Xenakis ist eine mehrtägige Hommage, die 1974 in Kooperation mit dem WDR in Bonn stattfindet. Die Konzerte laufen zum Teil Open Air – auf Straßen und Plätzen. So auch das Orchesterstück "Antikhthon", das auf dem Bonner Marktplatz erstmals erklingt, wo sich das klangstarke Opus wohl "eher verloren" anhörte. "Trotz großer Besetzung wurden die hitzigen Streicherfiguren und die massiven Bläserschübe zu einem Gutteil vom Winde verweht" (Kölner Stadt-Anzeiger). Das Bonner Festival ist Ausgangspunkt einer folgenreichen Verbindung zwischen Xenakis und dem WDR. Im Auftrag des Kölner Senders entstehen u.a. "La légende d'eer" 1977-78 im Elektronischen Studio, 1981 folgt "Nekuia für Chor und Orchester", 1985 "Alax für drei Ensembles", 1990 das Streichquartett "Tetora" und 1993 "Dämmerschein für Orchester", das im Juni 1994 in Lissabon von den WDR Sinfonikern uraufgeführt wird. 1996 folgt Xenakis zum letzten Mal einer Einladung nach Köln. Als WDR Auftrag erklingt sein Duo "Roscobeck", dessen Titel die Namen der Widmungsträger vereint: des Cellisten Rohan de Saram, des Kontrabassisten Stefano Scodanibbio und Wolfgang Becker, dem künstlerischen Leiter der Reihe Musik der Zeit von 1972 bis 1997.

Peter Eötvös, links, im Gespräch mit Harry Vogt, seit 1997 Leiter der Reihe "Musik der Zeit"

2002: Dialoge – nicht nur mit Eötvös
Der ungarische Komponist und Dirigent Peter Eötvös setzt seit den frühen 70er Jahren in zahllosen Konzerten der Reihe Musik der Zeit wichtige Akzente. Etliche Werke – u.a. von Lachenmann, Schnebel oder Ligeti – werden von ihm hier aus der Taufe gehoben. Ein festivalartiger Schwerpunkt widmet sich 2002 dem Schaffen von Peter Eötvös, dessen Musik dabei in einer breit gefächerten Werkauswahl vorgestellt wird. Dialogpartner sind vor allem junge Komponisten: Vykintas Baltakas, Bruno Mantovani, Pedro Amaral oder László Tihanyi, die alle von Eötvös entscheidend gefördert werden und von denen hier neue, im Auftrag des WDR entstandene Werke erklingen. Die Reihe "Musik der Zeit" widmet sich zu Beginn des Milleniums, anknüpfend an die 70er und 80er Jahre, wieder verstärkt thematischen Schwerpunkten, die oft festivalartig zugeschnitten sind. Zeit-los (2000) thematisiert die "Entschleunigung". Archipel (2000) steht als geografische Metapher für Versprengt-Vereinzeltes. Porträts fokussieren Komponisten wie Lachenmann, Sciarrino, Wolpe, Vivier oder Grisey oder Instrumenten wie der Viola (2001) oder dem multiplen Klavier (Pianorama 2003), Schwerpunkte widmen sich Aspekten wie Licht-Stimmen (2004), Tempo (2004) oder Ausdruck (Rausch und Ratio, 2006), Phänomen wie dem Werk-Doppel (Double, 2007) oder Aggregatzuständen zwischen Fließen und Statik (Clocks & Clouds 2009).

WDR Paternoster als mobile Bühne

2007: Funkhaus-Blockade
Diskrete Stücke nennt Manos Tsangaris seine "Hörszenen für einzelne Betrachter". Sie führen im November 2007 kreuz und quer durch das Funkhaus und machen das bunte Treiben in dem altehrwürdigen Gebäude zu einem besonderen Erlebnis. Die einzelnen Stationen spielen zum Teil in entlegenen Ecken des Funkhauses. Im Paternoster und Piano-Atelier, im oberen Foyer oder an der alten Pforte, sie führen durchs Treppenhaus und zur Schleuse des Haupteingangs, wo eine Funkhausblockade für jeweils zwei Zuschauer inszeniert wird. Tsangaris theatralisiert mit seinen Miniaturszenen den Ort und bezieht dabei Musiker auch "Hauspersonal" – wie Pförtner oder Redakteure – als Darsteller und Mitwirkende selbstverständlich wie Objekte, Video und Licht in das Spiel mit ein. Die besondere Aktion ist Teil eines Musik der Zeit-Wochenendes, das sich der Idee des Doubles widmet. Mit neuen Werken bzw. Werkfamilien, Ablegern und Sprösslingen von Michael Jarrell, Beat Furrer, Robert HP Platz, Klaus Huber und Wolfgang Rihm.

Gipfelstürmer: WDR-Sinfoniker spielen mit- und übereinander

2011: Orchester vertikal
Mit der Deutschen Erstaufführung von Jorge E. López Dome Peak (1992-93) knüpfen die WDR-Sinfoniker unter der Leitung von Emilio Pomàrico in der Philharmonie Essen an die große Raummusik-Tradition der Reihe Musik der Zeit an. López entwirft in Dome Peak eine riesige Klang-Landschaft. 82 Musiker spielen im Raum verteilt, auf zwei übereinanderliegenden Ebenen "gestapelt" – tiefe Instrumente oben, die hohen ausnahmsweise unten. Die Schlagzeuger agieren außerhalb des Saals. Das Publikum wird dergestalt eingekreist, wird Teil dieser intensiven Musik. Der amerikanische Komponist bezieht sich hier nicht auf den bekannten Dome Peak in Washington/USA, sondern auf den Tempelberg der hinduistischen und buddhistischen Mythologie. Dabei richtet sich der Blick nach innen, in die verschlungene Welt der chaotisch und "unsystematisch" gärenden Träume. Die Aufführung ist Teil einer Serie zum 60. Geburtstag der Reihe Musik der Zeit. Das Jubiläum wird gebührend gefeiert. Mit visionären Stücken, die alle das Orchester gezielt in Frage stellen: Hugues Dufourts Surgir, Der Bilderfresser von Fabio Nieder, der das Orchester mit Chorstimmen und Haushaltsgeräten aufmischt, Utopia II von Thomas Kessler, der das Geschehen bewusst dezentralisiert, indem er die Musiker fern der Bühne im Raum verteilt und ihnen zudem die Gestaltung der Live-Elektronik überlässt.

Emilio Pomárico navigiert durch sinfonische Labyrinthe

2014: Im Labyrinth
Musik der Zeit im Labyrinth des Minotaurus und in der Schattenwelt virtueller Räume. Am 10. Januar 2014 begegnen sich zwei auf den ersten Blick konträre Künstlerpersönlichkeiten aus zwei Generationen. Der kühl kalkulierende Pierre Boulez und der leidenschaftlich subjektive Jörg Widmann. Hinter der äußerlichen Gegensätzlichkeit verbirgt sich eine große Nähe: Für den jungen Klarinettisten Widmann ist Boulez' "Dialogue de l'ombre double" das Schlüsselerlebnis schlechthin. Ohne Boulez – so bekennt er – wäre er weder Komponist geworden, noch würde er zeitgenössische Musik interpretieren. "Das Labyrinth ist wahrscheinlich das zentrale Bild für uns Künstler." Die Idee des Irrgartens prägt Boulez' "Dialogue" genau wie auch Widmanns Drittes Labyrinth, das von existentiellen Entscheidungen, vor allem aber von Irrwegen handelt. Widmanns Drittes Labyrinth entsteht im Auftrag des WDR – ohne Lageplan und roten Faden: eine Musik, die den "Schöpfungsprozess als Labyrinth" wörtlich nimmt. Und in der die WDR Musiker – wie auch die Sopranistin Sarah Wegener und der Dirigent Emilio Pomárico – sich einem einmaligen Abenteuer aussetzen. Sie erarbeiten das Opus, das in buchstäblich letzter Sekunde fertig wird, als work in progess.

Stand: 08.09.2021, 10:46 Uhr