Illustration: Mädchen mit schwarzen Haaren hält weißen Pudel in den Armen.

03. Januar 2025

Wegen Anna geweint

привет, друзья!

In der siebten Klasse kam Julia in unsere Stadt. Als sie mit dem Klassenlehrer den Raum betrat, hielten wir sie für eine neue Referendarin. Wir waren 12, sie war 14 und wirkte auf uns ganz und gar erwachsen. Unsere neue Mitschülerin war Kontingentflüchtling, eine jüdische Russin aus Kiew. Es dauerte nicht lange, da war ich jeden Nachmittag bei ihr. Wir guckten Musikvideos von Dr. Alban bei Hitclip (Shoutout ans WDR-Fernsehen!), gingen spazieren und aßen Eis.

Bei unserem ersten Treffen zeigte mir Julias Vater in einem Fotobuch stolz die Schönheiten Kiews. Er sprach nur Russisch, ich antwortete auf Deutsch. Julia wohnte mit ihren Eltern und ihrem viel jüngeren Bruder in einem Zimmer der Notunterkunft, ihre Tante mit Mann, Kind und Hund im anderen Zimmer. Das Erste, was ich lernte, waren Imperative - einem niedlichen Cockerspaniel bringt man gerne neue Tricks bei und ein Fünfjähriger kann auch mal nerven: "Komm her!", "Guck mal!", "Gib Pfötchen!", "Hör auf!", "Los geht's!"

In der Schule schrieben wir uns Zettelchen - geheime Botschaften auf deutsch in kyrillischer Schrift. Ich hatte eine zweite Familie gewonnen und gelernt, die Kultur und Sprache zu lieben. Ich stürzte mich in die Klassiker von Tolstoi bis Solschenizyn und träumte davon, das eines Tages auch ohne Übersetzung tun zu können. Spoiler Alert: Das hab ich nie geschafft.

Während meines Studiums las ich einmal unvorsichtigerweise das Ende von Anna Karenina in der Unibibliothek. Rotz und Wasser und verstörte Blicke. Ein Freund, den ich begeistert zu Dostojewskij überredet hatte, lachte nur: "Ich hab bei denen immer das Gefühl, ich sehe das Unheil nahen und es lässt sich eigentlich noch abwenden. Ich will reinsteigen in die Seiten und die Leute schütteln. Und dann gehen sie doch unter. Immer." Vielleicht rufe ich ihn an oder Julia und wir hören zusammen Oblomov. Ob der die Liebe und das gute Leben findet oder als Russe seiner Zeit scheitern muss, das wird sich zeigen. Er würde aber auf jeden Fall einen gepflegten Hörspiel-Nachmittag auf dem Sofa jeder Feiersause vorziehen.

Egal ob eher ruhig oder ekstatisch - ich wünsche euch einen guten Start ins neue Jahr!
с новым годом
Nadine Schmid
WDR Hörspiel-Team

Illustration: Ein Mann mit Bart und Anzug sitzt gemütlich auf einem Sofa.

Oblomov - Stiller Held der russischen Literatur-Klassiker

Oblomov ist ein fauler, sentimentaler 32-jähriger Mann. Lethargisch verbringt er die meiste Zeit des Tages im Bett und findet keinen rechten Weg ins aktive Leben - bis er Olga kennenlernt.
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