
Santigold: "Spirituals"
Santigold: Hohepriesterin des Dancehall-Indie
Stand: 09.09.2022, 17:06 Uhr
Ihr Debüt ist ein ewiges Lieblingsalbum und "Disparate Youth" einer der schönsten Hits der 10er Jahre. Man horcht auf, wenn Santigold ein neues Album releast. "Spirituals" ist heilsam und tanzbar, es schafft den schwierigen Spagat zwischen experimentell und eingängig.
Von Marc Mühlenbrock
2018 noch konnte die Welt Santigold als Indie-Star erleben: Sie hatte ihr Mixtape "The Gold Fire Sessions" releast und ging auf Jubiläumstour ihres bis heute als wegweisend bezeichneten Debütalbums. Doch dann zog sich Santi White, wie die US-Amerikanerin eigentlich heißt, ins Privatleben zurück und bekam Zwillinge. Bei allem Familienglück war das auch unglaublich anstrengend. Besonders frustrierend aber war für die Vollblut-Kreative, dass sie sich nicht mehr ihrer Kunst widmen konnte – Santigold war "24/7 in Mum-Mode", wie sie sagt. Erst als ihre eigene Mama ab und zu das Babysitten übernahm, konnte sie sich ins Hinterhaus auf ihrem Grundstück in L.A. verkriechen, um zu arbeiten.
Die Themen der Welt auf einem Album
Direkt im ersten Stück des Albums reflektiert Santigold den langen Weg zu Album Nummer vier. "My Horror" bezeichnet ihren persönlichen Albtraum, als Künstlerin plötzlich zu verstummen. Besonders in Anbetracht all der Krisen, die in der Welt passiert sind. Zu Beginn des Schreibprozesses hat sich Santi noch Sorgen gemacht, wovon ihre Songs handeln sollen. Aber dann sperrte Covid-19 die Welt in den Lockdown, brannten die Wälder in ihrer kalifornischen Nachbarschaft und die Straßen des ganzen Landes füllten sich mit den Protesten der Black Lives Matter Bewegung. "Nothing" drückt die Minderwertigkeit aus, die Santi White als Afro-Amerikanerin empfand bei den die Proteste auslösenden, rassistischen Gewalttaten der US-amerikanischen Polizei - und auch die Gefühle all derer, die denken, dass sie nicht gesehen werden in dieser Welt.
Aus einer einsamen Hütte
Das Headquarter für die Produktion von "Spirituals" war eine einsame Hütte mitten in den Wäldern Kanadas. Von dort aus kommunizierte Santi während der Pandemie mit Produzenten in aller Welt. Über ein Dutzend Musiker haben an dem Album mitgearbeitet, zu den namhaftesten zählen Boys Noize in Berlin, SBTRKT in London und Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs in New York. Entstanden ist ein wiedermal sehr vielseitiges Santigold-Album. Auf "Spirituals" vereint die Sound-Visionärin ihre Wurzeln in Punk und New Wave ("Fall First") mit modernem Afrobeats und Dancehall Pop ("No Paradise") und nerdigen Synthie-Spielereien, die ab und an einen asiatischen Touch haben ("Witness").
Spirituelle Songs
Das Album ist benannt nach den spirituellen Gesängen afrikanischer Sklaven. Mit denen haben sie die Hoffnungslosigkeit ihrer eigenen Situation transzendiert und sich vorgestellt, als freie Menschen zu leben. Santigolds Album will sich natürlich nicht mit diesen Traditionals messen, sie sind vielmehr als Hommage an deren Bedeutung gedacht. Sie wollte der Welt auch heilsame Musik in dunklen Zeiten geben. Schon in der ersten Single erklärt sich Santi deshalb mit leichtem Augenzwinkern zur "High Priestess" - einer Hohepriesterin.