
Interview mit der ukrainischen Politikerin Halyna Yanchenko
"Ukrainische Kinder wünschen sich den Sieg zum Geburtstag"
Stand: 24.02.2023, 13:46 Uhr
Die 34-Jährige Halyna Yanchenko ist Parlamentsabgeordnete in der Ukraine und die Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe. Sie zählt seit 2019 zum Team von Präsident Zelenskiy. In seiner Regierung ist sie verantwortlich für Korruptionsbekämpfung und Digitale Strategien.
Von Łukasz Tomaszewski
Łukasz Tomaszewski: Frau Yanchenko, sie sind Mutter zweier Kinder. Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie?
Halyna Yanchenko: "Mein Mann ist immer noch in der ukrainischen Armee, ziemlich oft an der Front, wo er sein Leben riskiert. Meine Kinder sind immer noch im Ausland und haben den Status von Geflüchteten. Ich sehe sie nur alle drei Monate. Viele andere Ukrainerinnen leben in einer ähnlichen Situation. Meiner Meinung nach, und das ist auch die Meinung vieler meiner europäischen Kolleginnen, haben Ukrainerinnen ein neues Bild von Geflüchteten geschaffen. Es sind oft gut ausgebildete Menschen, die nicht von Sozialleistungen träumen. Sie versuchen, Jobs und Schulen für ihre Kinder zu finden. Nehmen Sie Polen. Ein Land, das mit die größte Zahl ukrainischer Geflüchteter aufgenommen hat. Dort haben Ukrainerinnen und Ukrainer im vergangenen Jahr über 2 Milliarden Euro an Steuern bezahlt. Das ist drei Mal so viel wie das Land an sozialen Leistungen für Geflüchtete ausgegeben hat. Als Land, als Bürgerinnen und Bürger träumen wir davon, dass der Krieg vorbei ist. Natürlich wollen die meisten Frauen und Kinder wieder Zuhause sein. Die Kinder wollen wieder zurück an ihre Schulen, zurück zu ihren Freunden, zurück zu ihren Spielsachen, zu ihren Vätern. Darum tun wir unser Bestes um den Sieg zu beschleunigen und es ist der Grund, warum wir unsere westlichen Alliierten darum bitten, schneller Militärhilfen zu schicken."
Bei den Waffenlieferungen gab es zuletzt einen Wandel: Deutschland hat gemeinsam mit anderen Staaten im Januar beschlossen, auch moderne Leopard 2- Kampfpanzer zu liefern. Zuletzt hat sich die Debatte auf Kampfjets ausgedehnt. Viele Menschen fragen sich: Wann haben wir genug geliefert?
"Es ist klar, dass es eine positive Entwicklung gibt. Aber es ist sehr einfach, die Frage zu beantworten, ob es genügt oder nicht. Das Kriterium dafür ist sehr einfach: Es wird genug sein, wenn der Krieg vorbei ist und die Ukraine gewinnt. Wir sehen, dass Russland immer noch sehr viele alte Waffen aus Sowjetzeiten an die Front schickt. Und viele Soldaten, unter ihnen Gefängnisinsassen. Sie kommen weiterhin, töten unsere Zivilisten und rauben unsere Städte und Dörfer aus. Darum reicht es leider nicht. Es geht um beides: Die Anzahl schwerer Waffen und um die dazugehörige Munition."
Die Munitionsbeschaffung ist nicht so einfach: Deutschland hat nicht genügend. Olaf Scholz erbat sogar kürzlich bei einem Staatsbesuch in Brasilien Panzermunition und bekam eine Abfuhr. Der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius hat dafür vergangene Woche bekannt gegeben, dass das Unternehmen Rheinmetall wieder Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard produzieren wird. Ein kleiner Fortschritt.
"Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass dieser Krieg im Herzen Europas stattfindet. Ein Krieg in einer Größe, wie ihn Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht erlebt hat. Um solch einen Krieg zu beenden und die Russen aus Ländern rauszuwerfen, die ihnen nicht gehören, ist es sehr wichtig, die Strategie der Militärindustrie zu verändern und zu vergrößern: In Umfang und Produktivität. Die Deutsche Wirtschaft ist eine der größten der Welt. Nach meinen Informationen ist es der viertgrößte Exporteur schwerer Waffen. Sicherlich hat das Land darum die Möglichkeiten, seine Kapazitäten zu steigern, um mehr schwere Waffen und Munition herzustellen. Leider wird das immer noch nicht gemacht."
Sie sind Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, sind ständig mit ihren Kolleginnen und Kollegen im Gespräch. Sollte Deutschland innerhalb der EU als eine Art Anwalt der Ukraine auftreten?
"Ich glaube, es ist Deutschlands moralische Pflicht, das zu tun. Leider hat Deutschland in der Vergangenheit Fehler begangen, die zu diesem Krieg geführt haben. Es wurde heftig darüber diskutiert, dass es die Initiative von Frankreich und Deutschland war, die 2008 einen NATO-Beitritt der Ukraine verhindert hat. Nach Auffassung vieler Militäranalysten haben Deutschland und Frankreich damit eine Einladung an Russland geschickt, sich auf die Invasion und diesen massiven und blutigen Krieg vorzubereiten. Darum ist es meiner Meinung nach die moralische Pflicht Deutschlands und Frankreichs, als unser Anwalt aufzutreten."
Was genau sollte denn ihr Anwalt tun?
"Wir sprechen über drei Dinge: Zunächst sollten die eingefrorenen russischen Devisenreserven für den Wiederaufbau der Ukraine bestimmt werden. Das ukrainische Justizministerium hat dafür einen Mechanismus erarbeitet, der von der Generalversammlung der UN bestätigt wurde. Wir sprechen über ein internationales Abkommen, das von Staaten auf freiwilliger Basis unterschrieben werden kann. Zweitens ist es der Wiederaufbau-Prozess. Ich war gerade in Charkiw. Wegen der russischen Invasion ist diese Stadt halb leer. Dort lebten 2 Millionen Menschen, heute noch eine Million. Es gibt täglich Angriffe. Alleine in der Region Charkiw wurden 18 tausend Gebäude von Russland zerstört. 2/3 aller Schulen sind beschädigt. Das letzte Drittel ist komplett ruiniert. Wir sprechen also über massive Zerstörung von zivilen Gebäuden, Krankenhäusern, Kindergärten, Schulen und Wohngebieten. Es ist wichtig dafür Ressourcen zu finden und es ist fair, dass es russische Ressourcen sind, die die Ukraine als Land wieder aufbauen. Ich hoffe, dass Deutschland hier nicht blockieren wird, sondern diesen Prozess anführt."
Ihr dritter Punkt ist sicher die Europäische Integration....
"Ich glaube, die Ukraine hat bewiesen, dass es ein europäisches Land ist. Es ist ein Land mit europäischen Werten. Zwischen 5-8 Millionen unserer Leute leben gerade in der EU. Wir sprechen also von einer Gesellschaft, in der ein Großteil alle möglichen europäischen Sprachen beherrschen wird. Sie leben bereits nach europäischen Werten, in einem europäischen Lifestyle. Diese Menschen sind ein Teil Europas und werden in die Ukraine zurückkehren. De facto ist unsere Gesellschaft in diesem Moment schon ein Teil Europas. Es ist sehr wichtig, keine Zeit zu verschwenden und nach Ausreden zu suchen und die Ukrainer Ewigkeiten warten zu lassen. Nicht nach bürokratischen Details zu suchen, um die Ukraine von Europa fernzuhalten. Ich denke, es wäre fair und es wäre auch ein Ausdruck der Dankbarkeit. Wir sind Europas Schutzschild."
Viele Beobachter sagen: Die deutsch-ukrainischen Beziehungen waren nie so gut wie heute. Wie ist Ihre Meinung?
"Ich kann dem absolut zustimmen und ich kann sogar aus der parlamentarischen Perspektive sprechen. Die Beziehungen zwischen beiden Parlamenten waren nie zuvor so eng und ergiebig wie im vergangenen Jahr. Ich denke, in Deutschland sind viele Dinge passiert. Es war wirklich ein Jahr der Zeitenwende. In beide Richtungen. Ich habe nie wirklich verstanden, warum Deutschland diese Sympathie gegenüber Russland pflegt. Der Zweite Weltkrieg ist für mich keine Erklärung, denn die Ukraine hat im Zweiten Weltkrieg noch viel mehr gelitten. Darum verstehen wir nicht, warum wir nicht diese Pietät, Aufmerksamkeit und Unterstützung hatten. Wie auch immer. Ich glaube, Deutschland hat sich aber auch selbst beeindruckt. Zu Beginn des Krieges haben wir gehört, dass viele Dinge unmöglich sind. Militärische Unterstützung: Unmöglich, militärisches Training: unmöglich. Es ist unmöglich, auf russische Energielieferungen zu verzichten. Aber wir haben dennoch diese beeindruckende Transformation gesehen. Aber Deutschland kann noch besser werden. Ihr habt das Potential und ihr habt es vergangenes Jahr bewiesen."
Lassen Sie uns über die Europäische Integration sprechen. Seit Sommer vergangenen Jahres hat die Ukraine den Kandidatenstatus. In den vergangenen Wochen sind weitere Schritte erfolgt. Anfang Februar gab es einen EU-Ukraine-Gipfel in Kyiv, an dem auch die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Ratspräsident Charles Michel teilgenommen haben. Präsident Wolodymyr Selensky fuhr wenige Tage später nach Brüssel, traf sich mit 27 Staats- und Regierungschefs und hielt eine Rede vor dem EU-Parlament. Er dankte für die Unterstützung und forderte ein beschleunigtes Beitrittsverfahren.
"Die Europäische Integration und die Vollmitgliedschaft in der EU sind unsere absoluten Prioritäten. Auch für Präsident Selensky. Ich gehöre zum engen Kreis des Präsidenten. Wir haben alle zwei Wochen gemeinsame Arbeitstreffen, wo ich ihn sehe. Im vergangenen Jahr hatte er zwei Prioritäten: Die erste war der Sieg, die zweite die Europäische Integration. Vergangenen Juni haben wir den Kandidatenstatus erhalten und sieben Voraussetzungen, die wir erfüllen müssen, vor dem Beginn konkreter Verhandlungen. Die Umsetzung dieser sieben Punkte wird von Präsident Selensky persönlich beaufsichtigt. Unsere Anstrengungen, diese europäischen Standards zu erfüllen, sind ganz oben auf der politischen Agenda. Und das trotz des Krieges und der ständigen Stromausfälle. Trotz all dieser Herausforderungen erstattet unsere Regierung dem Europäischen Rat und anderen EU-Institutionen ständig Bericht über all die Gesetzesänderungen, die wir verabschiedet haben. Meiner Meinung nach macht die Ukraine also mehr als sie kann. Jetzt liegt der Ball in vielen Bereichen wieder bei der EU. Es ist sehr wichtig, dass einige EU-Mitgliedsländer, unter ihnen Deutschland, nicht auf Zeit spielen und keine anderen Ausreden suchen. Das wäre eine große Enttäuschung."
Dann lassen Sie uns ins Detail gehen. Denn aus Sicht der EU gibt es die größten Mängel im Bereich Rechtsstaatlichkeit und Korruption. Vor Ihrer Zeit als Abgeordnete waren Sie eine Anti-Korruptions-Aktivistin. Jetzt verantworten Sie die Korruptionsbekämpfung der Regierung. Sie müssen also eine genaue Vorstellung davon haben, was noch genau zu tun ist. In den vergangenen Wochen wurden fünf Vize-Minister und vier Gouverneure wegen Korruptionsverdachts festgenommen.
"Wir haben große Fortschritte gemacht. Nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 haben wir innerhalb von einem Jahr alle Gesetze im Bereich der Korruptionsbekämpfung verbessert. Ich war eine der Personen, die diesen Prozess verantwortet haben. Wir haben alle Ideen und Wünsche der EU aus dem Bereich Korruptionsbekämpfung zusammengetragen, in Gesetze geschrieben und alles wurde verabschiedet. Wir haben also die Voraussetzungen geschaffen, die sie wollten. Eine ganze Struktur: Ein Nationales Antikorruptionsbüro, wir haben sogar ein Antikorruptionsgericht geschaffen. Alle gewünschten Gesetze wirken bereits. Es gibt einige Korruptionsfälle, und ich glaube das ist natürlich. Das kann auch in anderen Staaten passieren. Was aber wichtig ist, und was sich verändert hat: Korruption wird nicht mehr toleriert. Die Tatsache, dass es zu diesen aktuellen Ermittlungen kam, ist der Beweis dafür. Obwohl unsere Strafverfolgungsbehörden doch im Krieg sind und Kriegsverbrechen ahnden. Aber sie finden die Kapazitäten unterschiedliche Korruptionsfälle zu verfolgen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass sich die Situation verbessert."
Was sind Ihre politischen Ziele und persönliche Wünsche für das Jahr 2023?
"Wenn wir über die Europäische Integration sprechen: Die sieben erwähnten Voraussetzungen von Juni vergangenen Jahres haben wir weitestgehend abgearbeitet. Wir haben also ein sehr gutes Resultat in einer sehr kurzen Zeit erzielt. Ich halte es für realistisch, schon in diesem Jahr die Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Meiner Meinung nach ist es ziemlich realistisch, dass wir in zwei Jahren die Entscheidung über die EU-Mitgliedschaft beschließen. Wenn wir über meinen größten Traum für das Jahr 2023 sprechen. Dann ist das klar, es ist für alle Ukrainerinnen und Ukranier gleich. Wir alle wollen den Sieg. Und das ist unser größter Wunsch für dieses Jahr. Das ist das, was sich heute die kleinen ukrainischen Kinder zum Geburtstag wünschen."