
Interview mit Kulturstaatsministerin Claudia Roth
"Gezielter Krieg gegen die ukrainische Kultur"
Stand: 24.02.2023, 13:46 Uhr
Die Grünen-Kulturstaatsministerin Claudia Roth war eine der ersten deutschen Spitzenpolitikerinnen, die nach dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges in die Ukraine reiste. COSMO hat mit mit ihr über Russlands Krieg gegen die ukrainische Kultur, die Bewahrung ukrainischer Kulturgüter und die Notwendigkeit einer neuen Geschichtspolitik gesprochen.
Von Łukasz Tomaszewski
Łukasz Tomaszewski: Sie waren im Juni vergangenen Jahres in Odessa, als eine der allerersten Spitzenpolitikerinnen aus Deutschland. Was haben Sie auf dieser Reise gelernt?
Claudia Roth: "Was ich gelernt habe, ist, dass dieser Krieg nicht nur ein aggressiver Angriffskrieg gegen ein souveränes Land ist, das tausenden Menschen das Leben gekostet hat und Millionen Menschen die Heimat zerstört hat und sie in die Flucht getrieben hat. Ich habe gelernt, dass es auch nicht nur ein brutaler Propagandakrieg ist, wo mit Desinformation, Lüge, Fake-News, Verschwörungstheorien die Köpfe und die Herzen der Menschen vergiftet werden: In Russland, in Belarus vergiftet werden sollen, in der Ukraine, aber auch bei uns in Deutschland. Sondern was ich auch gelernt habe, das ist ein Krieg gegen die Kultur ist, der systematisch geführt wird. Es sind weit über 1000 Museen, Theater, Kinos, Konzertsäle, vor allem auch Archive, Bibliotheken, zusätzlich auch noch Kirchen angegriffen, beschädigt und zerstört worden. Und zwar nicht zufällig, sondern ganz bewusst und ganz gezielt. Mit dem Ziel, die kulturelle Identität, das, was die Ukraine ausmacht, zu zerstören und auszulöschen. Und das werde ich nie vergessen."
Sie haben unter anderem mit mit der Leiterin der ukrainischen Statsbibliothek und jungen Kulturaktivist*innen gesprochen. Was haben Ihnen die Menschen erzählt?
"Das, was mir die Bibliothekarin, die Leiterin der Staatsbibliothek in Odessa, gesagt hat: Wir haben 5 Millionen Bücher hier. Und der Angriff auf diese Bücher ist ein Angriff auf unser Gedächtnis, ist ein Angriff auf uns. Und genau das will Putin. Putin behauptet, es gibt die Ukraine gar nicht. Also muss man alles, was ukrainisch ist und die ukrainische Kultur ausmacht, zerstören. Und es ist ein Angriff auf die Kultur der Demokratie. Denn Demokratie ist das, was Putin ganz besonders hasst."
Die Digitalisierung von ukrainischen Archiven kann historische Dokumente und Schriften retten. Deutschland hat hierbei geholfen. Sie als Kulturstaatsministerin sind dafür mit verantwortlich.
"In der Tat, es geht nicht nur um Rüstungslieferungen. Darum geht es auch, dass die Menschen in der Ukraine sich überhaupt verteidigen können, ihr Selbstbestimmungsrecht überhaupt verteidigen können. Sondern es geht auch darum, dass wir beispielsweise unterstützen beim Kulturgut-Schutz. Wenn das Kulturgut ja sozusagen die kulturelle Identität ausmacht, dann müssen wir helfen, das zu beschützen. Das ist zum einen tatsächlich über umfassende Digitalisierung, dass wenigstens mal festgehalten ist, was es überhaupt gibt. Denn wir haben es ja in Cherson erlebt, wo die Museen geplündert worden sind, wo 13.000 Bilder, Skulpturen geplündert worden sind, gestohlen worden sind, verschwunden sind, wahrscheinlich auf die Krim gebracht worden sind oder zerstört worden sind. Mit der Digitalisierung wird das Eigentum festgehalten, und das ist die Ukraine, das sind die Menschen, das ist die Gesellschaft der Ukraine. Das heißt, wenn auf schwarzen Kunstmärkten dann Kulturgüter auftauchen, kann man sie zurückverfolgen und identifizieren. Man kann, indem man Archive digitalisiert, das, was systematisch zerstört werden soll, erhalten. Das ist sehr, sehr wichtig. Ich befürchte, es ist schon sehr viel verloren gegangen."
Wie kann Ihr Haus Historikerinnen und Historikern, aber auch Kulturschaffenden und Medienschaffenden aus der Ukraine helfen?
"Es ist der aktive Kulturgut- Schutz, in dem wir Verpackungsmaterial, Schutzmaterial, Feuerlöscher, also sehr, sehr praktische Dinge schicken, indem wir helfen, dass Kunstwerke evakuiert werden vom Osten in den Westen der Ukraine. Wir organisieren große Ausstellungen. Jetzt, damit auch Kunstwerke hier gezeigt werden können und auch vor Angriffen geschützt sind. Wir organisieren und helfen mit Stipendien, mit Residenz- Programmen und um der Propaganda etwas entgegenzusetzen: Wir haben sehr viel Mittel in die Hand genommen, um eine Exil-Medien-Struktur mit aufzubauen. Wo in der Zwischenzeit in acht verschiedenen Ländern in 33 Redaktionen, 500 Medienschaffende, Journalisten, Journalistinnen aus Russland, der Ukraine und Belarus arbeiten."

Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien und COSMO Reporter Lukasz Tomaszewski
Viele Historiker sagen: Es ist eine Entkopplung der Sowjetunion von Russland nötig. Eine neue Erzählung, dass nicht nur Russen und Russland die Opfer der Nazis gewesen sind. Sie sagen selbst, es muss darum gehen blinde Flecken auszuleuchten. Auch einen neuen Blick auf die Geschichte Osteuropas zu wagen. Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder hat es schon vor über zehn Jahren mit seinem Bestseller "Bloodlands" benannt: Rund ein Drittel der Opfer des Holocaust starben nicht in Konzentrationslagern, sondern durch Massenerschießungen in der Ukraine, Belarus, den Ländern des Baltikums und Polen. Trotzdem: Andrii Portnow ist der einzige Geschichtsprofessor in Deutschland, der an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder einen Lehrstuhl leitet, der sich mit der ukrainischen Geschichte beschäftigt. Was muss Deutschland in seiner Geschichtspolitik verändern?
"Der Professor hat noch nicht mal eine ganze Stelle, er hat eine halbe Stelle. Und wenn wir irgendetwas lernen, dann sehen wir doch, dass unser Blick sozusagen ein ganzes Stück Osteuropa draußen vorgelassen hat. Es gab eine Fixierung auf Russland, Leningrad, schreckliche Verbrechen, die die Nazis dort begangen haben. Aber es war eben nicht nur Russland, sondern es war Belarus, es war die Ukraine, die brutal zum Opfer wurde, wo Millionen von Menschen ermordet wurden, über acht Millionen Zivilisten, 1,6 Millionen Jüdinnen und Juden, 2000 Erschießungsorte, die es dort gegeben hat. Ja, sorry, ich weiß nicht, ob das in deutschen Geschichtsbüchern bisher überhaupt vorkommt. Es heißt, wir brauchen dringend eine Aneignung der eigenen Geschichte. Das ist ja unsere Geschichte, unsere Täter-Geschichte. Wir müssen sozusagen die Zurückhaltung aufgeben, auch was die Rolle der Wehrmacht angeht. Ich meine, das war ja immer wieder mal umstritten und heftig umkämpft. Ich erinnere an die Wehrmachtsausstellung. Die Wehrmacht hat dort gewütet und das muss auch etwas sein, mit dem wir uns auseinandersetzen."
Die Bundesregierung und der Bundestag haben sich verpflichtet das Dokumentationszentrums «Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa» zu errichten. Kann dadurch die deutsche und die europäische Erinnerungskultur korrigiert werden?
"Ich glaube, es ist richtig, dass wir eine europäische Perspektive einnehmen, und zwar von unterschiedlichen Seiten kommend, von der Täterseite, von der Opferseite kommend. Das soll passieren mit dem Dokumentationszentrum Gewaltherrschaft der Nazis, wo über 20 Länder Opfer der Gewaltherrschaft waren und wo wir eine europäische Perspektive versuchen. Um dann auch das gemeinsame europäische, was uns stark macht, die Demokratie stärker auch in den Vordergrund zu holen."