A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z

Arnold Schönberg - Pelléas und Mélisande op. 5

WDR Sinfonieorchester Video 06.09.2020 39:07 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3

Werkeinführung: Arnold Schönberg - "Pelléas und Mélisande" op. 5

Von Melanie Unseld

Maurice Maeterlincks Drama "Pelléas et Mélisande", 1893 in Paris uraufgeführt, traf einen Nerv der Zeit: Fast traumwandlerisch entwickelt sich die märchenhafte Erzählung entlang düsterer Bilder, die Erzählung von verworrener Vorvergangenheit und schicksalhafter Verstrickung zweier unglücklich Liebenden, die nicht zusammenkommen können.

Golaud, der alternde König, befindet sich auf der Jagd. Im Wald findet er eine unbekannte, geheimnisvolle Prinzessin, Mélisande, und bringt sie auf sein Schloss. Dort heiratet er sie, doch Mélisande fühlt sich unglücklich, fremd im kalten Schloss. Einzig die Nähe zu Golauds jungem Halbbruder Pelléas schenkt ihr Momente von Unbeschwertheit. Aus der spielerischen Annäherung wird eine unbestimmte Liebe. Eifersüchtig droht Golaud Pelléas, schließlich tötet er den Jüngeren im Zweikampf. Dass in der Folge auch Mélisande stirbt – eigentlich weiß man nicht genau, warum –, gleicht dem langsamen Fade-out einer symbolistischen Märchenwelt. Maeterlinck brachte hier nicht nur einen wirkmächtigen Kommentar zur "Décadence"-Empfindung des Fin de Siècle zum Ausdruck, sondern kreierte mit Mélisande auch eine Frauenfigur, die für die Zeitgenossen zur Inkarnation der Femme fragile avancierte. Nicht zuletzt die enge Anlehnung des Sujets an Richard Wagners "Tristan und Isolde", einem Schlüsselwerk des ausgehenden 19. Jahrhunderts, machte Maeterlincks Drama auch für Komponisten unmittelbar interessant. Der Dichter wurde mehrfach um die Rechte zur Vertonung gebeten, nur zögernd vergab er sie, darunter an Gabriel Fauré und Jean Sibelius, die jeweils Schauspielmusiken zu "Pelléas et Mélisande" schrieben (1898 und 1905), außerdem an Claude Debussy, der seine einzige vollendete Oper nach Maeterlincks Drama komponierte (1902 uraufgeführt).

Schönberg gehöre in die "Irrenanstalt"

Zur gleichen Zeit schlug Richard Strauss seinem jungen Kollegen Arnold Schönberg vor, Maeterlincks Drama ebenfalls zur Grundlage einer Oper zu machen. Schönberg erinnerte sich später: "Ich hatte ursprünglich daran gedacht, 'Pelleas und Melisande' als Oper zu vertonen, diesen Plan später jedoch aufgegeben – obwohl ich nicht wußte, daß Debussy gleichzeitig an seiner Oper arbeitete." Stattdessen komponierte Schönberg eine sinfonische Dichtung: Im Frühjahr 1902 begann er mit der Arbeit, und am 25. Januar 1905 fand die Uraufführung im Großen Musikvereinssaal in Wien unter der Leitung des Komponisten statt. Dem Werk war kein Erfolg beschieden, zu komplex schien dem Publikum die Partitur, zu wenig greifbar die darin einkomponierte Dichtung. Dabei war das Wiener Publikum kurz nach der Jahrhundertwende mit Entwicklungen der Sinfonik, vor allem auch der Begegnung von Dichtung und Musik im Genre der sinfonischen Dichtung, durchaus vertraut. Insbesondere die Werke von Franz Liszt und Richard Strauss fanden großen Beifall. Doch Einflüssen der Moderne, wie sie etwa Gustav Mahler vertrat, stand das Publikum mehrheitlich skeptisch gegenüber. So geriet auch die Reaktion auf Schönbergs Pelleas-Komposition negativ: "Einer der Kritiker", so erinnerte sich Schönberg 1949, "schlug vor, mich in eine Irrenanstalt zu stecken und Notenpapier außerhalb meiner Reichweite aufzubewahren."

Tatsächlich ist die Komposition nicht eine bloße Nachdichtung des Dramas von Maeterlinck in Tönen, sondern versucht geradezu die Quadratur des Kreises: Musikalisch soll das Märchen nacherzählt werden, die Musik zugleich aber rein musikalischen Formprinzipien folgen. Das gelingt Schönberg, indem er zum einen den wichtigsten auftretenden Personen und Schlüsselmomenten des Dramas musikalische Motive gibt, die die Erzählung in Gang halten. So gehört etwa das anfangs auftauchende, leise abfallende Oboen-Motiv Melisande, während Golo, der Jäger, mit einem kurzen Horn-Motiv bedacht wird. Diese "Leitmotive" bilden das musikalische Gewebe, das zusätzlich aber in eine rein sinfonische Form eingepasst wird. Zwar ist die sinfonische Dichtung (genregemäß) einsätzig, aber es finden sich vier ausgeprägte Teile, die zugleich auch vier Sätze einer Sinfonie abgeben könnten: ein sonatenförmiger Teil [I.], eine scherzohafter Abschnitt [II.], ein lyrisches Adagio [III.] und ein als große Reprise angelegter letzter Teil [IV.].

Schönberg konnte kaum erwarten, dass das Konzertpublikum eine derart komplexe Struktur hörend unmittelbar erkennt. Und so beauftragte er seinen Schüler Alban Berg, eine "kurze thematische Analyse" des Werkes anzufertigen. Die Wiener Universal Edition druckte diese Hör-Anleitung 1920, also 15 Jahre nach der Uraufführung. Zu diesem Zeitpunkt freilich waren die Aufregungen um die musikalische Moderne bereits weiter fortgeschritten, Schönbergs Phase des Komponierens "mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen" stand unmittelbar bevor.