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Ringförmige Sonnenfinsternis

Werkeinführung: Leonardo Marino - We were come to see the dawn

Von Otto Hagedorn

London, 29. Juni 1927. Mit nervöser Neugier besteigen zahllose Passanten die Sonderzüge, die an diesem Tag gen Norden starten. Spekulationen um den Weltuntergang schießen ins Kraut. Schließlich bleibt beim sensationellen Naturschauspiel jedoch alles ruhig: der ersten totalen Sonnenfinsternis über England seit 200 Jahren. "We were no longer in the same relation to people, houses and trees; we were related to the whole world." Diesen Satz notierte Virginia Woolf in ihrem Essay "The Sun and the Fish", den sie diesem Ereignis widmete. Fasziniert von der Sprachmacht dieses Textes, nahm der sizilianische Komponist Leonardo Marino Fragmente daraus zur Vorlage seines Werkes "We were come to see the dawn" ("Wir waren gekommen, um die Dämmerung zu sehen"). An Woolfs Essay fasziniert Marino unter anderem, dass die Autorin die möglichen Folgen der Sonnenfinsternis so beschreibt, als sei das vorübergehende Verschwinden der Sonne eine Vorahnung des menschlichen Schicksals.

Nach seinen Studien bei Alessandro Solbiati in Mailand und bei Michael Jarrell in Genf häufen sich in den letzten Jahren Leonardo Marinos Erfolge: 2017 wurde seine Kammeroper "Apnea" beim Festival zeitgenössischer Musik der Biennale von Venedig uraufgeführt. Seit letztem Jahr ist er Stipendiat der Peter Eötvös Contemporary Music Foundation. Seine zweite Oper, "Huit Minutes – Nous y étions presque", feierte im September dieses Jahres in Genf Premiere. Derzeit arbeitet Marino an einem Cellokonzert, das im kommenden Jahr von Ditta Rohmann unter der Leitung von Joanna Natalia Ślusarczyk aus der Taufe gehoben wird.

Virginia Woolfs spezifische Verwendung von Sprache ermöglichte es Marino, die Sänger:innen des Chores als Repräsentanten der Gesellschaft einzusetzen. So spiegeln Text und Musik "die Schwebe, in der wir heute leben", so Marino: "diese lange Sonnenfinsternis, in der wir gefangen sind und darauf warten, dass die Sonne wieder scheint".