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Heinz Holliger

Klangschatten und Trost

Stand: 20.01.2022, 08:00 Uhr

Von Otto Hagedorn

"Musik im Dialog" in Zeiten der Pandemie: eine Einladung, einzutauchen in Klänge, in Zeitlosigkeit, in Reflexionen. Von jeher eröffnet die Musik den Menschen neue Dimensionen, fasst sie Unsagbares in Klänge. Musik ist ein Medium des Trostes wie der Freude, der existenziellen Grenzbereiche wie der Lebensbejahung. Die Corona-Pandemie konfrontiert die Gesellschaften unserer Erde mit einem der größten Tabus – der Endlichkeit unseres Lebens. Covid-19 erschüttert die Festen unseres Bedürfnisses nach Sicherheit, Schutz und Halt, nach Hoffnung und Zuversicht. Dieses Spannungsfeld reflektiert das Programm des heutigen Abends.

Sein Nonett für Bläser D 79 komponierte Franz Schubert als 16-Jähriger. Er gab ihm den Titel "Franz Schuberts Begräbniß-Feyer" – und stellte so die Nachwelt vor ein Rätsel: bitterer Ernst oder ironischer Scherz? Schubert stand kurz davor, das Stadtkonvikt zu verlassen, an dem er Schüler war. Ist das Nonett womöglich eine Klage auf den bevorstehenden Abschied? Bei kaum einem anderen Komponisten ist die Melancholie so tief in die DNA der Musik eingeschrieben wie bei Schubert: ein Changieren zwischen Trauer und innerem Frieden – im Nonett des Teenagers versehen mit einem unterschwelligen Aufblitzen von Verschmitztheit.

Die Rätselhaftigkeit von Schuberts kurzem Bläserstück hat auch den Schweizer Komponisten Roland Moser beschäftigt. Geboren 1943, studierte er in seiner Heimatstadt Bern sowie in Freiburg und Köln. Er unterrichtete unter anderem Komposition am Konservatorium in Basel und war Mitglied im Ensemble "Neue Horizonte Bern". Seine Reaktion auf Schuberts Komposition "nimmt", so Moser, "gleichsam in einem 'Echoraum' die Idee der Vergrößerung auf. Wie vor Sonnenuntergang große, lange Schatten auf dem Boden sichtbar werden, sind die Motive in stark verlangsamter Bewegung zeitlich gedehnt."

Ähnlich wie Moser in seiner Schubert-Spiegelung reflektiert auch sein Landsmann Heinz Holliger in "Atembogen" bereits bestehende Werke. Die Komposition, erinnert sich der 1939 Geborene, "schrieb ich nach einer äußerst zerstörerischen Phase meiner Musik […]. Hier hole ich Musik wieder quasi aus dem Nichts heraus, es sind Schatten von 'richtiger' Musik." Ohne das Trauma des Zweiten Weltkrieges wäre das 1974/75 entstandene Werk kaum denkbar. Es realisiert Klänge eines nachhaltig erschütterten Grundvertrauens, einer tiefen Verunsicherung. Und so lautet eine der Spielanweisungen: "Schattenhafter, brüchiger Klang, dicht an der Hörbarkeitsgrenze". Der Musikwissenschaftler Michael Kunkel schreibt: "Vielleicht könnte man sagen: Dadurch, dass bestimmte existierende Musiken in 'Atembogen' zu Klangschatten werden, kommen jene eigentlich erst 'richtig' zu sich selbst."

Diese existierenden Musiken sind zum großen Teil Werke von Holliger selbst, aus den 1960er und frühen 1970er Jahren. "Atembogen" schuf er im Auftrag von Paul Sacher und zitiert darin auch andere durch diesen Schweizer Mäzen geförderte Kompositionen, etwa Béla Bartóks "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta", Arthur Honeggers zweite Sinfonie oder Igor Strawinskys Kantate "A Sermon, a Narrative and a Prayer". Wir hören ein Nachsinnen über Verlust und Vergänglichkeit. Auch durch literarische Texte ließ Holliger sich anregen, unter anderem von Robert Walser. So ist "Atembogen " auch ein Widerschein von dessen Satz über das Verklingen von Musik: "Das Schwinden ist ihr Leben". Oder anders gesagt: Ihre Wirkung kann sie nur entfalten, indem sie gleichzeitig vergeht.

Holliger, der die Musik für das heutige Programm ausgewählt hat, setzt an den Schluss unbändige Lebensfreude: Felix Mendelssohns vierte Sinfonie, die "Italienische". Auch sie ist ein Reflex – nicht auf andere Musik, sondern auf die Erlebnisse seiner ausgedehnten Reise in das Land der kollektiven Sehnsüchte. Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Pompeji, Genua und Mailand: Der Komponist schwelgte nur so in Eindrücken. Bald kommen ihm erste Ideen, wie er sie in Musik umschmelzen kann. Von seiner Arbeit an der Sinfonie berichtet er 1831 in die Heimat: Es ist das "lustigste Stück, das ich je gemacht habe". Und tatsächlich: Das Überschäumende, Mitreißende des ersten Satzes und das spritzige "Saltarello"-Finale beschwören