Vielfalt verbindet - 75 Jahre WDR Sinfonieorchester

WDR Sinfonieorchester Video 24.10.2022 10:58 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 WDR 3

Die Alleskönner - 75 Jahre WDR Sinfonieorchester

Von Michael Struck-Schloen

Arnold Schwarzenegger, Iggy Pop, Glenn Close, Wencke Myhre, Peer Steinbrück, Stephen King – und das WDR Sinfonieorchester! Das Jahr 1947, in dem die Genannten das Licht der Welt erblickten, war wahrlich keine einfache Zeit. Viele Gegenden Europas waren verwüstet, Millionen Menschen Krieg und Holocaust zum Opfer gefallen, in vielen Ländern kämpfte die Bevölkerung ums nackte Überleben, während in den USA mit den Ermittlungen gegen Kommunisten und ihre (vermeintlichen) Sympathisanten der Kalte Krieg dunkle Schatten vorauswarf. Wer in diesem Jahr 1947 geboren wurde, hatte – wie Schwarzenegger, dessen Vater der SA angehörte – mit den Nachwirkungen des Faschismus und den Verdrängungen der Nachkriegszeit zu tun, gegen die eine junge Generation erst 1968 politisch und künstlerisch aufbegehrte.

Die neugegründeten Rundfunkanstalten im besetzten Westdeutschland, aus dem 1949 die Bundesrepublik hervorging, spiegelten in ihren Kulturprogrammen die janusköpfige Grundhaltung der Zeit: zwischen einem demokratischen Neuaufbruch, zu dem wesentlich die Förderung des Experimentellen, Sperrigen gehörte – und dem Unterhaltungsbedürfnis der "Massen", die dem NS-Terror entkommen waren und sich nach neuer Normalität sehnten. Die jungen Klangkörper des Nordwestdeutschen Rundfunks mit der Zentrale in Hamburg und dem Regionalsender Köln (die Trennung in NDR und WDR erfolgte erst 1956) sollten dieses doppelte Bedürfnis mit hochkarätigen Kräften erfüllen, die damals mit hohen Einstiegsgehältern gelockt wurden – tatsächlich hatten die Rundfunkorchester aus der Vorkriegszeit noch den Ruf von Ensembles zweiter Klasse. Während allerdings das NWDR-Sinfonieorchester in Hamburg schon 1945 seine ersten Konzerte gab, dauerte es in der Filiale Köln etwas länger, bis der Intendant Hanns Hartmann seine Vorstellungen durchsetzen konnte. Im Herbst 1947 nahm das "Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester" seinen Dienst auf, geführt von zwei Chefdirigenten: dem Welschschweizer Jean Meylan und dem Bulgaren Ljubomir Romansky.

Luftaufnahme des Funkhaus am Wallrafplatz in den 1950er Jahren

Das neu errichtete Funkhaus am Wallrafplatz in den 1950er Jahren

Provisorien bestimmten die ersten Jahre. Weil das alte Kölner Funkhaus in der Dagobertstraße beschädigt war, spielte man in Kinos, Zirkushallen, Gemeindesälen oder in erhaltenen Konzertsälen des Rheinlands wie der Festhalle in Viersen. Hier fand im Januar 1948 das live gesendete Gründungskonzert des Sinfonieorchesters mit Werken von Beethoven und Brahms statt; als erste Opernproduktion wurde 1949 Richard Wagners "Parsifal" im Leverkusener Erholungshaus mit Josef Greindl und der jungen Martha Mödl eingespielt. Geordnetere Verhältnisse schuf der Neubau des Funkhauses am Wallrafplatz, der auf den Ruinen des zerbombten Hotels "Monopol" heranwuchs. Bei der Fertigstellung im Jahr 1951 gab es einen repräsentativen Konzertsaal und eine vollzählige Musikabteilung, der gleich mehrere Klangkörper unterstanden (einen Orchestermanager gab es damals noch nicht): ein Sinfonieorchester mit 73 Mitgliedern, das Orchester Hermann Hagestedt, Adalbert Luczkowskis Tanz- und Unterhaltungsorchester, das Orchester Hans Bund und ein 24-köpfiger Rundfunkchor mit dem Chordirektor Bernhard Zimmermann.

Wechselnde Moderne

Obwohl das damalige Kölner Rundfunk-Sinfonie- Orchester von Anfang an vor Publikum gespielt und mit seinen Programmen das gesamte Sendegebiet bereist hat, war das Hauptziel der frühen Jahrzehnte nicht die Konkurrenz zu den etablierten städtischen Orchestern in Nordrhein-Westfalen, sondern die Archivierung des Repertoires. Das klingt ein bisschen technoid und hermetisch, wird aber sofort verständlich, wenn man bedenkt, dass erst seit einigen Jahren die Aufzeichnung auf Tonbändern möglich war und der Schallplattenmarkt den Bedarf nach täglichen Musiksendungen nicht annähernd deckte – vor allem, wenn es um Werke ging, mit denen sich kein lukrativer Umsatz machen ließ. Der neue Kulturauftrag des Senders sah dagegen ein breites Spektrum vor: die "Rehabilitierung" der von den Nazis verfemten Komponisten ebenso wie die Schlachtrösser der Klassik und Romantik, die Oper und die radikale zeitgenössische Musik.

Gary Bertini dirigiert im Frack das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester im Jahr 1988

Chefdirigent Gary Bertini dirigiert das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester

So konnte das deutsche Publikum erstmals Stücke von Emigranten wie Paul Hindemith, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Béla Bartók oder Ernst Křenek erleben; auch Mendelssohn, Mahler, Korngold und andere jüdische Komponisten wurden wieder gespielt (wobei gerade die Mahler-Interpretationen des späteren Chefdirigenten Gary Bertini das Orchester bei seinen Tourneen, vor allem nach Japan, weltweit bekannt machte).

Die Moderne der Vorkriegszeit wurde in den Programmen allerdings bald abgelöst durch die Avantgarde der Gegenwart, die von den Rundfunkanstalten offensiv gefördert wurde und in der bis heute bestehenden Konzertreihe "Musik der Zeit" ein engagiertes Forum fand. Es ist viel darüber spekuliert worden, welche kulturpolitischen Motive hinter der Bevorzugung von Persönlichkeiten wie Pierre Boulez, Luigi Nono, John Cage und, allen voran, Karlheinz Stockhausen gegenüber gemäßigter komponierenden Meistern wie Hans Werner Henze, Giselher Klebe oder Karl Amadeus Hartmann standen. Sicher darf hier – wie bei der Gründung der Kasseler Kunstausstellung "documenta" und ihrem Schwerpunkt auf "abstrakter" Kunst – der Einfluss der Alliierten nicht unterschätzt werden, die den Westen Deutschlands auch künstlerisch als Bollwerk gegen den drangsalierten sozialistischen Kulturbetrieb sehen wollten. Zudem versprachen die jungen, radikalen Komponisten den gewünschten Bruch mit der "braunen" Vergangenheit und eine kreative Tabula rasa ohne Pathos und Traditionsbezug – aber eben auch ohne allzu provokante Politisierung der Musik. Die wurde erst 20 Jahre später ein Thema.

Parade der Stars

Das Experiment mit den zwei Orchesterleitern des Sinfonieorchesters erwies sich bald als wenig praktikabel, so dass man von 1949 bis 1964 ganz auf einen Chefdirigenten verzichtete – es war die "segensreiche cheflose Periode", wie sie der langjährige Solocellist Heinz Hahnel einmal genannt hat. Der internationale Musikmarkt nach dem Krieg machte es möglich: Jüdische Emigranten und politisch Verfolgte wie Otto Klemperer, Fritz Busch, Erich Kleiber, George Szell oder Rafael Kubelík wechselten sich in Köln mit aufstrebenden Pultlegenden wie Georg Solti, Sergiu Celibidache, Ferenc Fricsay oder Carlos Kleiber ab. Für die neue Musik, die an die Ausführung ganz andere komplexe Bedingungen stellte, wurden Spezialisten engagiert, darunter viele Komponisten, die ihre eigenen Werke dirigierten: Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Michael Gielen, Bruno Maderna, Hans Werner Henze, Hans Zender, Witold Lutosławski, Luciano Berio oder Peter Eötvös. Und vergessen wir nicht die Weltstars Lorin Maazel und Zubin Mehta, die sich in Köln als blutjunge Talente vorstellten – wie auch Wolfgang Sawallisch, der 1956 Orffs "Carmina Burana" für die Schallplatte aufnahm. Der bei den Sitzungen anwesende Komponist war begeistert.

Der NWDR gründet die Kölner Klangkörper (am 01.09.1947)

WDR ZeitZeichen 01.09.2022 14:50 Min. Verfügbar bis 01.09.2099 WDR 5


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Hinzu kam eine Gattung, die per definitionem eigentlich nicht zum Alltag eines Rundfunk- Sinfonieorchesters gehört: die Oper. Weit über hundert Musiktheater-Werke hat der WDR bis heute produziert, die Hälfte davon in den ersten zehn Jahren, als viele Opernhäuser in Deutschland noch ausgebrannte Ruinen waren. Fritz Busch und Georg Solti interpretierten Verdi, Joseph Keilberth dirigierte Mozart und deutsche Romantik, André Cluytens französische Opern, Claudio Abbado die "szenische Handlung" "Al gran sole carico d’amore" seines Freundes Luigi Nono. Diese Frequenz ließ sich auf Dauer nicht durchhalten, zumal der Platten- und CD-Markt sein Repertoire vergrößerte und die Traumgagen der Stars für den öffentlichrechtlichen Sender nicht mehr tragbar waren. Als bemerkenswerte "Nachzügler" sind der von Gerd Albrecht dirigierte Zyklus mit wenig bekannten Opern von Antonín Dvořák in Erinnerung, aber auch Semyon Bychkovs fulminante Aufnahme von Richard Strauss’ "Elektra" mit Deborah Polaski in der Titelrolle.

Man hat den Rundfunk-Sinfonieorchestern manchmal vorgeworfen, dass sie keinen wiedererkennbaren Klang hätten wie die großen Traditionsorchester aus Berlin, Dresden oder Wien. Abgesehen davon, ob ein "deutscher" oder "französischer" Klang überhaupt für jede Art von Musik wünschenswert ist, stehen bei den Klangkörpern im Rundfunk ohnehin andere Tugenden im Vordergrund: stilistische Vielseitigkeit, Flexibilität der Tongebung und des Ausdrucks, schnelle Einstellung auf die Persönlichkeiten der Dirigentin oder des Dirigenten, Präsenz und Präzision am Mikrofon.

Cristian Măcelaru

Cristian Măcelaru und das WDR Sinfonieorchester im Januar 2022 in der Kölner Philharmonie

In dieser Hinsicht bilden die handverlesenen Musikerinnen und Musiker des WDR Sinfonieorchesters tatsächlich eine "Armee von Generälen", wie es einmal der Musikschriftsteller Christian Friedrich Daniel Schubart im militärisch geprägten 18. Jahrhundert formuliert hat. Und so konnten sich auch nach dem Ende der "cheflosen Periode" die wechselnden Orchesterleiter – von Christoph von Dohnányi über Zdeněk Mácal, Hiroshi Wakasugi, Gary Bertini, Hans Vonk, Semyon Bychkov und Jukka-Pekka Saraste bis hin zu Cristian Măcelaru – darauf verlassen, dass sie nicht nur brillante Einzelleistungen, sondern für jede Musikepoche die entsprechende stilistische Kompetenz erhalten – herausgearbeitet in ausreichenden, intensiven Probenzeiten, von denen etwa englische Orchester nur träumen können.

Neue Herausforderungen an das alte Orchester

Die Frage, ob der Orchesterapparat in seiner "romantischen" Besetzung überhaupt noch zeitgemäß ist – sie wurde in den 1970er Jahren im WDR in einer experimentellen "Orchesterwerkstatt" praktisch diskutiert –, hat sich mittlerweile fast erledigt. Denn auch für jüngere Komponistinnen und Komponisten ist das Orchester kein Relikt mehr aus feudalen Zeiten, sondern ein unerschöpfliches Reservoir für neue Klangabenteuer (bis hin zur Live-Elektronik) und räumliche Versuchsanordnungen, das eher durch seine Vielfalt als durch seine Begrenzung einschüchtern kann. Die seit 1986 bestehende Konzertarena in der Kölner Philharmonie bietet dafür die besten Voraussetzungen.

Jukka-Pekka Saraste

Jukka-Pekka Saraste und das WDR Sinfonieorchester im Dezember 2022

Andererseits hat die Einführung des dualen Rundfunksystems in den 1980er Jahren und die Umstrukturierungen der öffentlich-rechtlichen Sender, dem die klassischen Fachredaktionen zum Opfer fielen, auch neue Herausforderungen an die Organisation und Programme des WDR Sinfonierohesters gestellt. Mit Hans-Martin Höpner übernahm 1997 erstmals ein Orchestermanager die Leitung und künstlerische Planung; zur gleichen Zeit trat mit Semyon Bychkov ein weltweit renommierter Dirigent an die Spitze des Orchesters, der mehr Präsenz auf dem CD-Markt, internationale Tourneen und eine schlagkräftige Konkurrenz zu den übrigen Sinfonieorchestern im Lande versprach. Das hat dazu geführt, dass das WDR Sinfonieorchester von China bis in die USA zur anerkannten "Marke" wurde, die ebenso für die sehr persönliche Gesamteinspielung von Beethovens Sinfonien (unter Jukka-Pekka Saraste) steht wie für die maßstäbliche Interpretation aktueller Werke. Und auch das Thema "Musikvermittlung" hat seither durch Jugendabos und Konzertformate aller Art wie die "Konzerte mit der Maus", die "Kommissar Krächz"-Konzerte oder die Reihe "WDR@Phliharmonie" neue Impulse bekommen.

Inzwischen aber kann sich kein Klangkörper von ARD und Deutschlandradio mehr auf seinen künstlerischen Lorbeeren ausruhen. Sparzwänge und die anhaltende Diskussion um die Rundfunkgebühren, die Abkehr vom "linearen" Radio hin zu digitalen Formaten, die Corona-Pandemie und die wirtschaftlich angespannte Gesamtlage bilden derzeit ein brisantes Gemisch, in dem die Kultur generell einen schwereren Stand hat als noch vor einigen Jahren. In diesen schwierigen Zeiten hat sich der WDR offensiv zu seinen Ensembles bekannt. Das sollte Mut machen für die Orchesterarbeit in den kommenden 75 Jahren.