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Eigentlich sollte der Zentralrat der Juden in Deutschland lediglich die Interessen der Holocaust-Überlebenden vertreten, bis diese die nach Israel auswandern. Nun wird er am Sonntag (19.07.2020) 70 Jahre alt – eine Erfolgsgeschichte.
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Doch andererseits hat noch im April der Antisemitismusbericht der NRW-Landesregierung eine langfristige Zunahme der Übergriffe gegen Juden festgestellt. Und am Dienstag (21.07.2020) beginnt der Prozess um das Attentat auf die Synagoge in Halle/Saale.
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Fragen an Abraham Lehrer, Vorstand der Kölner Synagogengemeinde und Vizepräsident des Zentralrats der Juden.
WDR: Herr Lehrer, ist Ihnen überhaupt zum Feiern zumute?
Abraham Lehrer: Nein, überhaupt nicht – und auf der anderen Seite doch. Die 70 Jahre sind natürlich ein freudiger Anlass, auf eine Erfolgsgeschichte zurückzuschauen. Für uns ist das natürlich ein schönes Zeichen, dass der Zentralrat an der Nachkriegsgesellschaft intensiv beteiligt war. Stichwort Attentat von Halle: Das gehört zu den Dingen, die einem viel Sorge machen. Da haben wir schon manche unruhige Nacht zu verbringen.
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Abraham Lehrer ist im Vorstand der Kölner Synagogen-Gemeinde und Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Er wurde 1954 als Kind von Holocaust-Überlebenden in New York geboren.
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WDR: Wie ist es in NRW im Jahr 2020, offen jüdisch zu leben?
Lehrer: Es ist etwas problematischer als noch vor zehn Jahren. Sie erinnern sich vielleicht an die Diskussion um No-Go-Areas. Dass wir gesagt haben, wir raten unseren Gemeindemitgliedern, in bestimmten Straßen besser nicht mit der Kippa erkenntlich spazieren zu gehen.
Das betrifft ganz wenige Viertel in den großen Städten oder ganz wenige Regionen in unserem Land. Aber wir sagen unseren Menschen: Seid vorsichtig und geht lieber zurückhaltend als offensiv mit eurem Judentum um.
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WDR: Nach dem Krieg saßen die Juden hier buchstäblich auf gepackten Koffern. Heute haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland gut 95.000 Mitglieder und in NRW gut 26.000. Wie kam es dazu?
Lehrer: Nach dem Holocaust hat niemand auf jüdischer Seite daran geglaubt, dass es weiter jüdisches Leben in Deutschland geben würde. Alle Überlebenden, alle Zurückkehrenden haben gesagt: Ich komme zurück, um mir eine andere Heimat, ein neues Zuhause zu suchen.
Dass sich die Menschen dann umentschieden haben und sich jüdisches Leben wieder organisiert hat, dass wieder Gottesdienste wie in Köln in den Ruinen der Synagogen stattgefunden haben – das bewegt einen schon sehr.
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WDR: In den 1990er Jahren kamen viele Juden aus Osteuropa nach Deutschland. Das führte auch zu Spannungen in den Gemeinden. Wie ist die Situation heute?
Lehrer: Diese Spannungen gab es in zahlreichen Gemeinden. Es kam eine große Zahl neuer Mitglieder, die integriert wurde – und natürlich hat diese Mehrheit gesagt, wir wollen in der Gemeinde repräsentiert werden. Es hat aber nur kurz Konflikte geben, weil sowohl die Zugewanderten als auch die Alteingesessenen verstanden haben, dass die Funktionäre, die die jüdische Gemeinde auf Landes- oder Bundesebene vertreten, die Interessen aller wahrnehmen.
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WDR: Was wünschen Sie sich als Vorstand der Kölner Synagogengemeinde und als Vizepräsident des Zentralrats für die nächsten 70 Jahre?
Lehrer: Ich habe einen alten Wunsch. Den habe ich geäußert, als ich in der Kölner Gemeinde zu denjenigen gehört habe, die Sicherheitsmaßnahmen eingeführt haben. Damals habe ich gedacht, wenn du verheiratet bist, ist die Bedrohung vorbei. Das war leider nicht so.
Dann habe ich gesagt, wenn die Kinder auf die Welt kommen, dann wird es vorbei sein. Auch das war leider ein Trugschluss. Heute habe ich Enkelkinder und muss sagen, ich glaube nicht mehr daran, dass ich es erleben werde, jüdische Einrichtungen frei von Polizeischutz zu sehen.
Das Interview führte Dominik Reinle.
Was ist Antisemitismus?. Planet Wissen. 09.06.2020. 02:15 Min.. Verfügbar bis 09.06.2025. ARD-alpha.
Stand: 19.07.2020, 06:00