Inflation und fehlende Zeiterfassung bedrohen den neuen Mindestlohn

Stand: 03.06.2022, 18:42 Uhr

Ab Oktober gilt mit 12 Euro ein neuer gesetzlicher Mindestlohn. Die derzeit hohe Inflation trübt die Freude über die Erhöhung. Die größere Bedrohung für den Lohn sind aber Jobs ohne Stundenerfassung. Kontrolliert wird die Arbeitszeit nach Ansicht von Experten zu selten.

Der Bundestag hat am Freitag eine neue Lohnuntergrenze beschlossen, die im Oktober in Kraft tritt. Angesichts der derzeit hohen Inflationsraten ist aber zu befürchten, dass von den 1,55 Euro, die beim Mindestlohn oben draufkommen, nicht viel im Portemonnaie ankommt.

Mindestlohn - "ein Schritt Richtung Inflationsbekämpfung"

Eine Befürchtung, die bei steigenden Kosten zwar alle trifft, aber eben nicht jeden gleichermaßen hart. Geringverdiener und Arme sind von der Inflation stärker betroffen. Dennoch ist die Steigerung des Mindestlohns, der lange vor diesen hohen Inflationsraten ausgehandelt worden ist, nach Ansicht des NRW-Landesgeschäftsführers des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes eine gute Sache: "Das ist ein Schritt Richtung Inflationsbekämpfung", sagt Christian Woltering.

Viel härter treffe die Inflation die Grundsicherungsempfänger. Woltering glaubt nicht, dass durch den höheren Mindestlohn Arbeitsplätze wegfallen - dies seit der Einführung der ersten gesetzlichen Lohnuntergrenze 2015 nicht passiert: "Seit Einführung des Mindestlohns ist nicht ein Arbeitsplatz deswegen weggefallen. Das sind Schauergeschichten aus der Wirtschaft."

Mindestlohn schützt vor Altersarmut nicht

Bitter bleibe jedoch, dass auch die neue Untergrenze nur gut sei, wenn man "für sich selber sorgen muss" und die Rente ausklammert: "Selbst wenn man 45 Jahre in Vollzeit für einen Mindestlohn von 12 Euro gearbeitet hat, schützt einen das nicht vor Altersarmut", so Woltering.

Ein noch größeres Problem ist jedoch, dass die bloße Einführung eines Mindestlohns - das gilt seit 2015 und mit jeder weiteren Erhöhung - noch nicht garantiert, dass man diesen auch bezieht: "Es gibt die reale Gefahr, dass der Mindestlohn bei Geringverdienern nicht ankommt", sagt Frank Christian Starke, Arbeitsmarktexperte der WDR-Wirtschaftsredaktion.

Zeiterfassung ist die Achillesferse des Mindestlohns

Die Achillesferse des Mindestlohns sei die Zeiterfassung: "Überall da, wo es keine exakte Erfassung der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit gibt, ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet", so Starke. Wenn der Lohn nicht ansteigt, müsse die Arbeitszeit sinken.

Die Sorge, dass das vielerorts nicht passiert, ist berechtigt, bestätigt Professor Peter Wedde von der Frankfurt University of Applied Sciences. Es werde schon jetzt viel getrickst, und das Risiko, beim Umgehen des Mindestlohns erwischt zu werden, sei gering: "Wenn die Arbeitgeber wüssten, das wird richtig teuer für mich, würden sich sie sich rechtmäßg verhalten", so Wedde. Diesen Druck aufzubauen, dafür seien die Kontrollstellen bei Zoll oder Gewerbeaufsicht personell nicht ausgestattet.

Wedde fordert eine "Whistleblower-Hotline" für Arbeitnehmer

In diesem Bereich sieht auch Woltering die Gefahr einer Aushebelung des Mindestlohns: "Das Problem ist, dass nicht ausreichend kontrolliert wird. Stichproben gibt es. Aber das ist zu wenig." Zudem sei es "leicht, sich von Minijobbern zu trennen". So bleibt die Frage, wer seinen Job riskiert, um auf eine Verkürzung der Arbeitszeit oder mehr Lohn zu bestehen.

Aus diesem Grund plädiert Arbeitsrechtsexperte Wedde neben einer "stärkeren Kontrolle" auch für "eine Art Whistleblower-Hotline", an die sich Arbeitnehmer als Betroffene anonym wenden können, wenn ihnen der Mindestlohn verweigert wird. Wedde kennt die Trickerseien beim Umschiffen von Arbeitnehmerrechten: Da würden plötzlich Rüstzeiten wie das Umziehen nicht mehr zur Arbeitszeit gezählt oder Lieferdienste behaupteten, dass nur die Kurierfahrten Arbeitszeit seien, alles dazwischen aber Pause. Um das zu vermeiden, müsse eine "revisionssichere Dokumentation" von Arbeitszeiten Standard sein - wie früher die Stempelkarte.

Größere Gefahr in kleinen und mittelständischen Betrieben

Wedde betont allerdings, dass es sich bei Arbeitgebern, die den Mindestlohn umgehen, um "schwarze Schafe" handelt. Es sei nicht die Regel, doch wegen fehlender Kontrollen eben eine reale Bedrohung für den Arbeitnehmer.

In größeren Unternehmen sieht Wedde kaum Probleme, wohl bei kleinen und mittelständischen Betrieben. "Das ist leider Gottes nichts Neues. Das wird auch so bleiben, weil die wirtschaftliche Drucksituation hoch ist", so Wedde. Zu gefährdeten Branchen zählt er unter anderem die Logistik, Gastronomie und das Reinigungsgewerbe. Aber auch Zuliefererbetriebe größerer Konzerne seien betroffen: "Immer wenn etwas outgesourct ist, ist es gefährlich", so Wedde.

Gefährlich überall dort, wo keine sichere Zeiterfassung stattfindet. Denn der Mindestlohn ist ein Stundenlohn: "Der besteht aus zwei Wörtern - Stunde und Lohn", so der WDR-Tarifexperte Starke. Beides muss zusammenpassen, um dem gesetzlichen Mindestlohn gerecht zu werden.

Über dieses Thema hat der WDR auch in der Aktuellen Stunde am 10.6.2022 berichtet.