Kermani auf Ukraine-Reise: "Man will mit diesem Russland nichts mehr zu tun haben"

Stand: 22.04.2022, 09:40 Uhr

Was macht der Krieg mit den Menschen in der Ukraine? Der Publizist Navid Kermani reist derzeit durch das Land. Seine Eindrücke schildert er im Interview.

Navid Kermani, Friedenspreis-Träger des Deutschen Buchhandels, ist derzeit in der Ukraine unterwegs und recherchiert für eine Reportage für "Die Zeit". Unter anderem plant er Stationen in Lwiw, Kiew und Odessa. Bereits im Jahr 2016 hatte er das Land bereist. Der WDR hat ihn am Freitagmorgen gesprochen.

WDR: Herr Kermani, wenn Sie in diesen zerstörten Städten unterwegs sind: Welche Wirkung hat das auf Sie?

Navid Kermani: Für mich ist das eine Beschämung, weil ich die Warnungen bereits 2016 gehört habe. Und ich habe sie mir damals nicht unbedingt zu eigen gemacht. Was mich auch beschämt ist, dass dieser Krieg ja nicht vor zwei Monaten begonnen hat. Russland unter Wladimir Putin hat eigentlich mit dem Amtsantritt eine Serie von Kriegen gestartet: in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien, auf der Krim, im Donbass.

Und wir haben alle nicht reagiert. Das hat sehr stark dazu beigetragen, dass diese Kriege sich fortgesetzt haben. Dass Putin sich ermutigt fühlte, weiter imperial vorzugehen. Im Gegenteil, die Gasgeschäfte gingen ja erst richtig los seitdem.

WDR: Mit wem reden Sie auf ihrer Reise?

Kermani: Ich versuche, mit möglichst vielen Menschen zu sprechen. Natürlich auch mit manchen, die ich bereits 2016 getroffen habe: Intellektuelle, Künstler, Publizisten. Aber ich spreche auch ganz normale Menschen an: auf der Straße oder an Orten, wo Lebensmittel verteilt werden. Ich klopfe auch an Haustüren, solange die Türen noch da sind, und versuche, ins Gespräch zu kommen. Zum Beispiel mit einer Geschäftsfrau aus Mariupol. Wie ist es, vier Wochen ohne alles auszukommen, bei bitterer Kälte? Wie ist es, von Kartoffeln aus dem eigenen Garten abhängig zu sein und das war's?

WDR: Dieser Wille der ukrainischen Bevölkerung, dieses Selbstbewusstsein, Russland eine Niederlage zufügen zu wollen. Wie erklären Sie sich das?

Kermani: Russland kämpft nicht um seine Existenz, es ist ein Krieg der Armee. Hier kämpft ein Volk. Die Mobilisierung betrifft alle Schichten. Ich war bei Pfadfindern, die ein ganzes Haus übernommen haben. Da sieht man Jugendliche, die die Verteilung der Hilfe selbst organisieren - so professionell als wären sie eine weltweit tätige NGO. Das Gefühl, dass man als Gesellschaft kulturell und physisch vernichtet werden könnte, führt dazu, dass man unglaublich einig ist.

Im Jahr 2016 war das noch ein relativ gespaltenes Land. Viele Menschen fühlten sich eher Russland zugehörig - wegen der Sprache, der Kultur oder der Geschichte. Und jetzt ist es völlig egal, welche Sprache man spricht - soweit ich das nach ein paar Tagen beurteilen kann. Man will mit diesem Russland nichts mehr zu tun haben. Man will nach Europa.

WDR: Werden Sie darauf angesprochen, dass Deutschland eine zögerliche Haltung zeigt?

Kermani: Ja, aber seltsamerweise nicht wegen der Waffenlieferungen. Sondern vor allem wegen des nicht vollzogenen Öl- und Gasboykotts. Und wegen symbolischer Gesten, die hier als sehr unsensibel wahrgenommen werden. Also die Einladung von Präsident Steinmeier zu dem Konzert, bei dem auch russische Musiker spielen sollten. Wenn man das Gefühl hat, man soll zu einem falschen Frieden verdonnert werden, das kommt hier sehr schlecht an.

Das Interview führte Andrea Oster.

Das Gespräch wurde für die Online-Version sprachlich bearbeitet und gekürzt.

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