Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist in Kiew nicht willkommen. Zusammen mit den Staatschefs von Polen, Litauen, Lettland und Estland wollte das deutsche Staatsoberhaupt in die ukrainische Hauptstadt reisen, "um dort ein starkes Zeichen gemeinsamer europäischer Solidarität mit der Ukraine zu senden und zu setzen", sagte Steinmeier am Dienstag in Warschau. "Ich war dazu bereit. Aber offenbar - und ich muss das zur Kenntnis nehmen - war das in Kiew nicht gewünscht."
Ein unnötiger Affront gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, immerhin einer der wichtigsten Geldgeber und Unterstützer der Ukraine? Oder völlig verständlich - angesichts eines jahrzehntelangen "Schmusekurses" Steinmeiers gegenüber dem russischen Aggressor? Fragen und Antworten.
Was wirft die Ukraine Steinmeier grundsätzlich vor?
Steinmeier steht wie kaum ein anderer aktiver Politiker für eine deutsche Russland-Politik der vergangenen Jahrzehnte, die offensichtlich krachend gescheitert ist. Sowohl als Kanzleramtsminister unter Gerhard Schröder als auch als Außenminister der Regierung Merkel hatte Steinmeier stets auf eine enge Zusammenarbeit mit Russland gesetzt und allzu laute Kritik an Putin vermieden.
Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, hatte dem Bundespräsidenten deshalb im Tagesspiegel vorgeworfen, "seit Jahrzehnten ein Spinnennetz der Kontakte mit Russland geknüpft" zu haben. "Für Steinmeier war und bleibt das Verhältnis zu Russland etwas Fundamentales, ja Heiliges, egal was geschieht - auch der Angriffskrieg spielt da keine große Rolle", sagte Melnyk.
Und was sind konkrete Kritikpunkte?
Unter anderem hatte Steinmeier bis zuletzt das deutsche-russische Gaspipeline-Projekt Nord Stream 2 verteidigt. Noch im Februar hatte der Bundespräsident in einem Interview mit der "Rheinischen Post" erklärt, die Energiebeziehungen seien "die letzte Brücke zwischen Russland und Europa". Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs und dem offiziellen Ende der Pipeline-Pläne entschuldigte Steinmeier sich für die Fehleinschätzung.
Auch die Rolle Steinmeiers nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 sieht die Ukraine in der Rückschau kritisch. In der 2015 unter deutscher und französischer Vermittlung vereinbarten Minsker Vereinbarungen verpflichtete sich die Ukraine, den pro-russischen Separatisten im Osten des Landes weitreichende Autonomie zu gewähren. Die wichtigste Voraussetzung für den Vertrag wurde aber nie umgesetzt: ein Ende der Kämpfe zwischen ukrainischen Regierungstruppen und Separatisten.
Wie erklärt Steinmeier seine Haltung zu Russland?
Auch der Bundespräsident sieht seine Russland-Politik als gescheitert an. "Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben", erklärte er Anfang April. "Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden."
Seine Einschätzung sei gewesen, dass Putin nicht den kompletten wirtschaftlichen, politischen und moralischen Ruin seines Landes für seinen imperialen Wahn in Kauf nehmen würde. "Da habe ich mich, wie andere auch, geirrt."
Trifft die Kritik den Richtigen?
Das ist schwer zu sagen. Zwar hat Steinmeier die eher Russland-freundliche Politik Deutschlands nach dem Ende der Sowjetunion als Minister stets mitgetragen. Allerdings hat er dies im Auftrag und mit ausdrücklicher Zustimmung seiner jeweiligen Regierungschefs getan: also Angela Merkel und Gerhard Schröder.
Während Schröder seine eigene Verantwortung für die Annäherung an Russland heute nicht mehr kommentieren möchte, weist Merkel Kritik aus der Ukraine zurück. Die ehemalige Bundeskanzlerin stehe "zu ihren Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest", teilte eine Sprecherin mit. Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy hatten sich damals trotz des Drängens von US-Präsident George W. Bush einer Aufnahme der Ukraine in die Nato widersetzt.
Die Ukraine wünscht sich stattdessen einen Besuch von Bundeskanzler Scholz. Realistisch?
Die Chancen für einen Besuch des Bundeskanzlers in Kiew stehen aktuell wohl nicht gut. In der Bundespressekonferenz am Mittwoch machte Regierungssprecher Wolfgang Büchner deutlich, dass die Ausladung des Bundespräsidenten nicht nur die Person Steinmeier betrifft, sondern mit ihm den höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland.
Er ließ auch offen, ob Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Einladung der Ukraine zu einem Kiew-Besuch annehmen werde. "Über die Termine des Bundeskanzlers informieren wir sie immer dann, wenn sie anstehen."
Möglicherweise hat auch die ukrainische Regierung mittlerweile erkannt, dass der Affront gegen Steinmeier nicht der klügste Umgang mit einem wichtigen Bündnispartner ist. Selenskyjs Stabschef Serhij Leschtschenko dementierte am Mittwoch gegenüber CNN, dass der ukrainische Präsident das Besuchsangebot von Steinmeier ausgeschlagen habe.