Warum zögert Deutschland bei direkten Waffenlieferungen in die Ukraine?

Stand: 21.04.2022, 08:57 Uhr

Bei der Abwehr der russischen Großoffensive befinden sich die ukrainischen Streitkräfte in einem Rennen gegen die Zeit. Trotzdem hält sich Deutschland bei direkten Lieferungen schwerer Waffen zurück. Warum eigentlich?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will die Ukraine weiterhin militärisch unterstützen. Nur direkt aus deutschen Beständen sollen die Waffen offenbar nicht kommen. Zwar sagte Scholz der Ukraine am Dienstagabend erneut zu, Lieferungen der deutschen Rüstungsindustrie zu finanzieren. Konkrete Aussagen zum Thema schwere Waffen vermied er aber.

Was sind die Gründe für die deutsche Zurückhaltung? Wäre eine direkte Lieferung von Panzern und anderem schwerem Kriegsgerät wirklich ein unkalkulierbares Risiko? Fragen und Antworten.

Was hat die Bundesrepublik bisher geliefert?

Es ist bekannt, dass Deutschland bereits in der ersten Wochen des Ukraine-Kriegs Luftabwehrraketen, Panzerfäuste, Maschinengewehre, Schutzwesten, Helme, Nachtsichtgeräte und gepanzerte Fahrzeuge direkt an die Ukraine geliefert hat. Welche und wie viele Waffen in jüngster Zeit geliefert wurden, unterliegt der Geheimhaltung.

Was verlangt die Ukraine?

Vor allem schwere Waffensysteme: Kampfpanzer, Artillerie, Luftabwehrsysteme, Kampfflugzeuge und Anti-Schiffs-Raketen - alles was die aktuelle russische Offensive im Osten der Ukraine aufhalten könnte. Insbesondere drängt die Ukraine auf eine schnelle Lieferung direkt aus Bundeswehrbeständen. Die deutsche Armee habe mehr als 400 Marder-Schützenpanzer, von denen etwa 100 nur für Ausbildung und Training benutzt würden und daher sofort zur Verfügung stünden. Hinzu kämen 800 Fuchs-Transportpanzer, von denen ein Großteil ebenfalls nicht im Einsatz sei.

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Wie erklärt die Bundesregierung ihr Zögern?

Direkte Lieferungen könnten nach Aussage der Bundesregierung die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr beeinträchtigen. "Wir hätten keine Möglichkeit mehr, auf Eventualitäten zu reagieren, und das würde die Verteidigungsfähigkeit doch erheblich schwächen", erklärte am Mittwoch der stellvertretende Bundeswehr-Generalinspekteur Markus Laubenthal im ZDF-"Morgenmagazin". Ein Großteil der Marder-Schützenpanzer werde gebraucht, um Ersatzteile für den Einsatz bereitzustellen.

Die Bundeswehr müsse auch ihre Verpflichtungen an der Ostflanke der Nato erfüllen, betonte Laubenthal. Angesichts des Sparkurses der vergangenen Jahre gebe es ohnehin schon "Materiallücken".

Ist das der wahre Grund?

Daran gibt es Zweifel. "Das scheint mir ein vorgeschobenes Argument zu sein", erklärte der ehemalige Bundeswehr-General Hans-Lothar Domröse am Donnerstag im WDR. Derzeit gebe es keine akute Gefahr eines russischen Angriffs gegen Nato-Staaten. Die Bundeswehr könnte seiner Ansicht nach durchaus Waffen aus dem Bestand abgeben und innerhalb von relativ kurzer Zeit Ersatz besorgen. "Wenn man das will, dann hätte man vielleicht eine Lücke von einem Vierteljahr", sagte Domröse, "die halte ich für vertretbar". Angesichts der großen militärischen Erfahrung in der ukrainischen Armee sehe er auch kein Problem darin, die Soldaten schnell an der neuen Ausrüstung auszubilden.

Nach Ansicht des Bonner Politikwissenschaftlers Max Mutschler dürfte die zögerliche Haltung der Bundesregierung vor allem in der Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts begründet sein. So könnte Russland zum Beispiel deutsche Waffenlieferungen auf dem Transportweg als legitimes Ziel einstufen, was eine neue Eskalationsspirale auslösen könnte.

Die Sorge sei angesichts der massiven Drohungen aus Moskau zwar verständlich, sagte Mutschler dem WDR am Mittwoch. "Aber auch Nicht-Liefern ist ein Risiko. Ohne Risiko geht es nicht."

Scheut die Bundesrepublik das Risiko wirklich mehr als andere Länder?

Das ist schwer zu sagen. Zwar haben sich vor allem die USA bei der Militärhilfe für die Ukraine bereits stark engagiert. Auch mehrere osteuropäische Länder wie Tschechien und die baltischen Staaten haben bereits im Rahmen ihrer Möglichkeiten schwere Waffen geliefert, Belgien und die Niederlande wollen bald nachziehen. Die meisten westlichen EU-Staaten sind jedoch in dieser Frage bisher ebenso zurückhaltend wie Deutschland.

Die Kritik aus der Ukraine trifft aber zurzeit vor allem die Bundesrepublik - wohl auch vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau.

Viele Länder der westlichen Allianz halten sich beim Thema Waffenlieferungen bedeckt. Wer welche Systeme wirklich in die Ukraine bringt, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Sicherheitsgründe dürften dabei eine entscheidende Rolle spielen, wenn beispielsweise von Frankreich und Italien so gut wie keine Details über Waffenlieferungen veröffentlicht werden. Konkreter wurde der britische Premierminister Boris Johnson. Er lasse prüfen, Raketen für Angriffe auf Schiffe an die Ukraine zu liefern, kündigte Johnson in dieser Woche an.

Spielt auch die deutsche Geschichte eine Rolle?

Jahrelang hatte es die Bundesrepublik zumindest offiziell abgelehnt, Waffen in Krisengebiete zu liefern. Eine historisch bedingte Zurückhaltung Deutschlands in solchen Fragen könne er aber nicht erkennen, sagt Politikwissenschaftler Mutschler. "Das ist ein Mythos."

Deutschland habe in der Vergangenheit immer wieder Waffen und Rüstungsgüter in Krisengebiete exportiert. Zum Beispiel nach Saudi Arabien: "Dort wurden sie dann auch im Jemen-Krieg eingesetzt. Da gab es überhaupt keine Bedenken."

Über dieses Thema berichten wir auch am Mittwoch ab 18.45 Uhr in der "Aktuellen Stunde" im WDR-Fernsehen.

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