Ehemalige Verschickungskinder erinnern sich
03:18 Min.. Verfügbar bis 05.09.2023.
"Das Kindersanatorium Haus Bernward war ein Ort der Qual" - Ehemalige Verschickungskinder treffen sich in Bonn-Oberkassel
Stand: 05.09.2022, 19:01 Uhr
Mehr als 10 Millionen Kinder und Jugendliche sind zwischen 1950 und 1990 bundesweit zur Kur in Kindererholungsheime geschickt worden. Dort erlebten sie physischen und psychischen Missbrauch. Die ehemaligen Verschickungskinder setzen sich nun für die Aufarbeitung der Geschichte in der Region ein.
Von Britta Schwanenberg
Die sechs Männer und Frauen, die sich am Sonntagmittag am Bahnhof in Bonn Oberkassel treffen, vergeuden keine Zeit mit Small-Talk. Schon in der Vorstellungsrunde kommt das Gespräch auf die traumatischen Erinnerungen ihrer Kindheit, auf Wochen der Tortur und des Heimwehs, die hier am Bahnhof begannen.
Alle sechs haben eins gemeinsam: Sie wurden als Kinder nach Bonn zur Kur geschickt. Gedacht war die zur Erholung. Doch sie erlebten Zwang und Missbrauch, viele wurden mit Medikamenten ruhig gestellt. In den Jahren zwischen 1950 und 1990 wurden weit über zehn Millionen Kinder und Jugendliche zur Kur in Erholungsheime öffentlicher, kirchlicher und privater Träger verschickt.
"Jeden Abend musste ich eine Tablette nehmen“
So beginnt Detlef Lichtrauter die Vorstellungsrunde. Zwölf Jahre war er alt, als er im Sommer 1973 ins Kindersanatorium Haus Bernward geschickt wurde. Als einer der Ältesten der Runde hat er die detailliertesten Erinnerungen, bis heute kommen sie in Alpträumen hoch.
Vor einigen Jahren hat er begonnen, mit dem Verein "Aufarbeitung Kinderverschickungen-NRW e.V." die Verschickungsjahre systematisch aufzuarbeiten. Das Treffen an diesem Tag hat er ins Leben gerufen und freut sich, dass so viele gekommen sind. Es wird ein Tag, an dem schreckliche Erinnerungen hoch kommen – aber auch einer, an dem alle Beteiligten merken: Sie sind nicht allein.

Barbara Thiel war als Verschickungskind im Haus Bernward.
Einen Kilometer laufen sie, dann stehen sie vor dem Tor der Villa. Betreten dürfen sie das Gelände heute nicht, es ist in Privatbesitz. Doch schon der Anblick von weitem reicht ihnen. "Ich hab ein ganz schlechtes Gefühl, wenn ich hier stehe“, sagt Barbara Thielke. "Ich habe eine richtige Gänsehaut." Sie war sechs und hat Monate im Haus Bernward und dem nahegelegenen Haus Ebton verbracht. Gleich nach der Ankunft sei sie mit ihren eigenen Pantoffeln verprügelt worden.
Auch Alfred Schillings erinnert sich an seine Ankunft. Er wurde er von seinem Bruder getrennt, dann ging es zum Arzt. Der drohte mit einer riesigen Spritze, erzählt er. "Wenn du einmal ins Bett macht, gibt es diese Spritze, wenn du zweimal ins Bett macht, gibt es die Größere." Danach musste er als "Bettnässer" seine Genitalien fotografieren lassen. "Ich dachte, der ist ja Arzt, der darf das", sagt Schillings.
Die späte Aufarbeitung
Auch Barbara Thielke hat seither viel darüber nachgedacht, warum dieses dunkle Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik so spät erst aufgearbeitet wird. Nachdem sie ihrem Vater einmal von dem Erlebten erzählt habe, sei ihr gedroht worden. "Wenn du dir noch mal sowas ausdenkst, kommst du in ein Erziehungsheim," sagte der Arzt. "Das hat sich bei mir so festgesetzt, dass ich nie wieder drüber geredet habe.“
Die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, ist eine Erinnerung, die viele Verschickungskinder in ganz Deutschland teilen. Und wohl ein Grund, warum die Aufarbeitung erst so spät beginnt.
Viele ehemalige Verschickungskinder fühlten sich lange selbst schuldig
Zwei Stunden ist die Gruppe in Oberkassel gemeinsam unterwegs, danach hören alle gemeinsam einem Vortrag von Detlef Lichtrauter zu. Wie ein Puzzle fügen sich am Ende die Erinnerungen aller zusammen, zu einem erschreckenden Bild:
„Obwohl wir Betroffene zum Teil schon in den fünfziger Jahren, ich selber erst 1973 hier waren, haben wir alle das Gleiche erlebt. Und zwar sämtliche Formen von physischer und psychischer Gewalt."
1976 wurde das Kurheim in Oberkassel geschlossen. Heute, über vierzig Jahre später, steht für Detlef Lichtrauter fest: "Haus Bernward war ein Hot Spot der Kinderverschickung. Es sticht mit seinem Maß an Misshandlungen deutlich hervor in der Geschichte dieser Kurheime.“
Über dieses Thema berichten wir am 05. September 2022 im WDR Fernsehen: Lokalzeit aus Bonn, 19:30 Uhr