Auf Station: So ist es wirklich in der geschlossenen Psychiatrie

Stand: 22.03.2023, 08:43 Uhr

Etwa jeder dritte Mensch in Deutschland wird im Laufe des Lebens wegen einer psychischen Erkrankung behandelt - trotzdem werden diese Leiden tabuisiert. Seltene Einblicke in eine psychiatrische Station in Düren.

Von Ulf Eberle

"Gummizellen, Zwangsjacken und lauter Bekloppte", so fasst Marcel zusammen, was er vor seiner Behandlung über psychiatrische Kliniken dachte. Marcel ist 36 Jahre alt und Patient in der LVR-Klinik Düren - wegen eines Suizidversuchs.

Solche Vorstellungen, wie Marcel sie hatte, teilen noch immer viele. Über psychische Erkrankungen wird nicht gerne geredet und Menschen, die sich eigentlich Hilfe suchen müssten, trauen sich nicht, diesen Schritt zu gehen - aus Angst, ausgegrenzt zu werden. "Wir sind eine Tabu-Klinik“, sagt ein Arzt einer Psychiatrie.

"Die meisten kommen erst dann zu uns, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und es nicht mehr anders geht. Dabei könnten wir schon viel früher helfen."

Über mehrere Monate hat ein WDR Kamerateam in der LVR-Klinik Düren den Alltag der "Geschützten Station 11 F" begleitet - deren Türen nur vom Personal geöffnet werden können. Die Doku-Serie “Auf Station - mein Leben in der Psychiatrie” gibt es jetzt in der ARD Mediathek:

Aber was erwartet einen in psychiatrischen Klinik? Die etwas zeitgemäßere Variante von "Einer flog übers Kuckucksnest"? Weiße Gänge, medikamentös ruhig gestellte Menschen, apathisch gegen die Wand stierend?

"Die Morgenarznei wird verteilt", tönt es aus den Lautsprechern und wenig später stehen sie Schlange vor dem Medikamentenzimmer: Frauen und Männer mit Depressionen, Psychosen, Borderline-Störungen, Schizophrenie - die Liste ist lang. Die Krankheitsbilder sind so unterschiedlich, wie die Menschen, die hier herkommen. Gemeinsam haben sie eines: Sie wissen, dass sich etwas ändern muss. 

Ziel: Lernen, mit der Krankheit zu leben

Durchschnittlich sechs Wochen verbringen die Patientinnen und Patienten in der Klinik. Die leitende Oberärztin Dr. Heike Gräfin Stenbock-Fermor ist vorsichtig mit Begriffen wie "Happy End", wenn sie über Behandlungserfolge redet. "Es passiert selten, dass jemand mit einer schweren Symptomatik zu uns kommt und davon bei der Entlassung gar nichts mehr vorhanden ist", sagt sie.

Dr. Heike Gräfin Stenbock-Fermor, leitende Oberärztin | Bildquelle: Sandra Stein

Aber das sei auch gar nicht unbedingt das Ziel. Es gehe vielmehr darum, "mit den Betroffenen den ersten großen Schritt aus der Krise zu gehen und mit ihnen Werkzeuge zu finden, die einen guten Umgang mit der Erkrankung möglich machen", erklärt Stenbock-Fermor. Sie ist eine von 1.400 Mitarbeitenden in der LVR Klinik Düren. Jährlich werden hier etwa 8.000 Patientinnen und Patienten behandelt. 

Der Ärztin ist es wichtig, den Betroffenen nicht nur Tabletten zu verabreichen, sondern ihnen auch mit Therapien und Anwendungen zu helfen und sie möglichst gut auf die Rückkehr in den Alltag vorzubereiten. Das gelingt nicht immer.

"Es ist die Realität im Krankenhaus, dass manche Patienten wiederkehren und man einigen gar nicht helfen kann. Das kann frustrierend und traurig sein."  Dr. Heike Gräfin Stenbock-Fermor, leitende Oberärztin

Psychotischer Schub: Eine Nacht lang ist David orientierungslos umhergeirrt

David kam nach einem schweren psychotischen Schub in die Klinik - fünf Wochen ist das her. Er hat inzwischen gelernt, seine Erkrankung anzunehmen. Der Weg dahin war jedoch schwierig. David ist 29 Jahre alt und arbeitet als Elektriker. Orientierungslos war er eine ganze Nacht lang durch seinen Wohnort gelaufen, bis seine Familie ihn fand. Da er sie aber nicht erkannte und aggressiv wurde, musste die Polizei kommen, um David zu beruhigen.

David kam wegen einer Psychose in die Klinik | Bildquelle: WDR

Ein Schock für die ganze Familie war diese Nacht - vor allem für David selbst. Es dauerte Wochen, bis er sich daran erinnern konnte, was geschehen war. Und es dauerte noch länger, bis David akzeptieren konnte, dass er psychisch krank ist.

Einen ersten Klinikaufenthalt bricht er ab. Er kann sich in der Psychotherapie nicht öffnen, will nicht einsehen, dass er eine Psychose hatte und dass sein Cannabiskonsum ein Grund dafür sein könnte. Beim zweiten Versuch auf Station 11 F helfen ihm anfangs vor allem die Gespräche mit anderen Patientinnen und Patienten, die ihm erzählen, was die Therapien bei ihnen in Bewegung bringen.

Ehemalige Patienten helfen bei der Heilung

David sucht schließlich das Gespräch mit dem Genesungsbegleiter Dirk Christians. Genesungsbegleitende sind ehemalige Patienten, die nach einer einjährigen Ausbildung andere psychisch Erkrankte bei ihrer Heilung unterstützen. Mit seiner Hilfe schafft David es, sich langsam zu öffnen und in den Psychotherapiesitzungen Fortschritte zu machen. Auch die Teilnahme an der WDR-Doku sieht David als wichtigen Schritt:

"Ich möchte mich nicht verstecken mit meiner Krankheit." David, Patient in der LVR Klinik Düren

Die Zimmernachbarin als Zuhöhrerin und Mutmacherin

Ähnlich wie David kam auch Imane gegen ihren Willen in die Klinik. Sie hatte versucht, sich mit Medikamenten das Leben zu nehmen und lag mehrere Tage im Koma. Imane hat zwei Kinder, die an einer unheilbaren Stoffwechselerkrankung leiden, ihr Sohn ist daran gestorben, 15-jährige Tochter wird momentan palliativ betreut. "Die Aussicht, auch mein anderes Kind noch beerdigen zu müssen, war einfach zu viel für mich", sagt Imane.

Imane ist Patientin der LVR-Klinik Düren. | Bildquelle: WDR

Nachdem sie aus dem Koma erwacht, ist sie zunächst wütend: "Ich wollte ja keine Hilfe, ich wollte sterben." Dennoch kann sie sich schnell für die Behandlung öffnen - auch weil sie das Glück hat, mit ihrer Zimmernachbarin Marion eine gute Zuhörerin und Mutmacherin an ihrer Seite zu haben.

"Marion hat mir sehr geholfen, dass ich der Klinik eine Chance geben will." Imane, in ihrer dritten Woche auf Station 11 F

Schon bald fasst sie den Entschluss, ihr Leben neu sortieren zu wollen und lässt sich auf die verschiedenen Therapieangebote der Klinik ein. Egal ob Ergo- oder Bewegungstherapie - Imane zieht sich aus allem etwas, das sie gesundheitlich weiter bringt. Herzstück der klinischen Behandlung ist die Psychotherapie. Hier realisiert Imane, dass sie einige harte Entscheidungen für ihr weiteres Leben treffen muss. Bei diesem Prozess begleitet die Doku sie. 

"Die Gespräche helfen sehr"

Auch Marcel versucht mithilfe der Psychotherapie zu verstehen, wie es soweit kommen konnte, dass er einen Abschiedsbrief geschrieben und seinen geliebten Hund abgegeben hatte, um sich das Leben zu nehmen. "Anfangs dachte ich, Therapeuten haben ja selber alle einen an der Meise, aber die Gespräche helfen mir sehr", sagt Marcel. Er erkennt, dass er den plötzlichen Tod seines Vaters noch nicht verarbeitet hat - genauso wie die Flutkatastrophe 2021, bei der er mit der Freiwilligen Feuerwehr eingesetzt wurde. "Nicht helfen zu können, das ist das Schlimmste für einen Feuerwehrmann", sagt Marcel.

Marcel sucht jetzt nach einem ambulanten Therapieplatz | Bildquelle: WDR

Trotzdem bricht er die Therapie in der Klinik ab, entlässt sich selbst: "Es sind zu viele Therapiestunden ausgefallen und nur um Medikamente zu nehmen, muss ich nicht in der Klinik sein", erklärt er, als das WDR-Doku-Team ihn zu Hause besucht. Urlaubszeit, dünne Personaldecke - das waren Erklärungen der Klinik, die Marcel nicht daran hindern konnten, seine Behandlung auf Station abzubrechen. Er sucht nun einen ambulanten Therapieplatz, was sich wegen der langen Wartezeiten schwierig gestaltet.

Als Imane nach 6 Wochen entlassen wird, sagt sie: "Bis ich hier gelandet bin, habe ich einfach nur gelebt, weil ich leben muss, weil ich da bin. Aber jetzt habe ich 'Ja' gesagt zum Leben und das ist eine komplett neue Erfahrung für mich." Auf dem Weg nach draußen geht Imane an einem Bäumchen vorbei, an dem Zettel mit Wünschen und Botschaften ehemaliger Patientinnen und Patienten von Station 11 F hängen. Auf einem steht:

"Hier wird euch geholfen. Nicht aufgeben!"

Das Team von “Menschen hautnah” durfte mehrere Patientinnen und Patienten auf Station 11 F der LVR-Klinik Düren begleiten - Imane, Marion, Marcel, David und Tino. Jeder von ihnen  ist auf der Suche nach einem Weg, mit der psychischen Erkrankung zu leben. Zu sehen ist die vierteilige Doku-Serie “Auf Station - meine Zeit in der Psychiatrie” in der ARD Mediathek.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer sich mit Suizidgedanken trägt, empfindet seine persönliche Lebenssituation als ausweglos. Doch es gibt eine Fülle an Angeboten zur Hilfe und Selbsthilfe, auch anonym.

Telefonseelsorge

Die Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Der Anruf hier findet sich weder auf Ihrer Telefonrechnung noch im Einzelverbindungsnachweis wieder.

Menschen muslimischen Glaubens können sich an das muslimische Seelsorgetelefon wenden. Es ist ebenfalls kostenfrei und anonym 24 Stunden am Tag unter der Rufnummer 030/44 35 09 821 zu erreichen.

Chat der Telefonseelsorge

Die Telefonseelsorge bietet Betroffenen auch die Möglichkeit an, sich Hilfe per Chat zu holen. Dazu meldet man sich auf deren Webseite an.

E-Mail-Beratung der Telefonseelsorge

Menschen mit Suizidgedanken können sich auch an die E-Mail-Beratung der Telefonseelsorge wenden. Der E-Mail-Verkehr läuft über die Webseite der Telefonseelsorge und ist deshalb nicht in Ihren digitalen Postfächern zu finden.

Anlaufstellen für Opfer von häuslicher Gewalt

Das Hilfetelefon ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr unter 08000 116 016 erreichbar.

Der Weiße Ring bietet ebenfalls einen anonymen Telefondienst unter 116 006 sowie eine Online-Beratung.

Überblick auf Hilfsangebote

Darüber hinaus hat die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) zahlreiche Informationen zu Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und sozialpsychiatrischen Diensten aufgelistet, an die sich Suizidgefährdete und Angehörige wenden können, um Hilfe zu erhalten. Entsprechende Informationen finden Sie unter nachfolgendem Link.

Folge 1: Ankommen Auf Station – Meine Zeit in der Psychiatrie (Staffel 1) Staffel 1, Folge 1 04.05.2023 22:08 Min. UT Verfügbar bis 31.12.2099 WDR Von Ulf Eberle