Der russische Angriff auf die Ukraine war erst einen Tag alt, als Leonid Bolgarow in russische Gefangenschaft geriet. Der Priester aus dem umkämpften Odessa im Süden des Landes war mit anderen Geistlichen und einem Arzt auf dem Weg zur Schlangeninsel. Das Eiland im Schwarzen Meer war kurz zuvor trotz heftiger Gegenwehr der dort stationierten Soldaten von der russischen Marine erobert worden. Die ukrainische Armee ging fälschlicherweise davon aus, dass alle Angehörigen ihrer Streitkräfte gefallen waren.
Mission: Leichen bergen
Das dachten auch Bolgarow und seine Mitstreiter. Sie hatten sich vorgenommen, die Leichen der Soldaten zu bergen. Doch sie erreichten die Schlangeninsel nie. Noch bevor ihr Schiff anlegen konnte, wurde es von der russischen Marine gestoppt und die ganze Mannschaft geriet in Gefangenschaft. Sie wurden in ein Lager auf russischem Staatsgebiet gebracht.

Vor der Überfahrt zur Schlangeninsel
Unmittelbar nach der Ankunft der Gefangenen habe es erste Misshandlungen gegeben, erzählt Bolgarow: "Es war minus 22 Grad draußen. Sie ließen uns alle knien. Wir haben draußen im Schnee nachts zwischen 3 und 5 Uhr gekniet." Erst dann seien sie in ein Zelt gebracht worden. In den Tagen darauf begannen die Verhöre. Der Vorwurf: Terrorismus.
Schläge und Schikanen
"Als wir in der Untersuchungshaft waren, dort war es am schlimmsten, wenn es für uns sogenannte Spaziergänge gab" erinnert sich der Priester im Gespräch mit dem WDR. "Wenn sie uns hinausbegleiteten, ist es vorgekommen, dass sie mit einem Schlagstock oder mit der Faust auf uns eingeschlagen haben, oder sie haben uns beinahe zu einem Spagat gezwungen. Es war sehr brutal."
Der Leidensweg der Männer aus Odessa endete erst nach 43 Tagen. "Uns und einige andere haben sie wieder nach Simferropol geflogen. Dort haben sie uns in Lkw gesetzt." Wenig später wurden sie auf einer Brücke gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht.
Human Rights Watch sammelt Beweise
Bolgarows Geschichte sei kein Einzelfall, sagt Wenzel Michalski von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW): Seine Organisation habe im Februar und März an mehr als 17 Orten in der Ukraine Nachforschungen angestellt und dort Fälle von Misshandlungen und Folter der Zivilbevölkerung nachgewiesen.

Wenzel Michalski
Ein besonders grausamer Fall: Alle 350 Bewohner des Ortes Jahidne wurden nach HRW-Recherchen im Keller einer Schule eingesperrt. 28 Tage lang hätten die Menschen dort ausharren müssen - ohne angemessene Verpflegung. Zehn ältere Häftlinge hätten die Tortur nicht überlebt, sieben weitere seien von den Besatzern abgeholt worden. Was aus ihnen geworden ist, wisse man nicht. "Wir sammeln Fakten für künftige Kriegsverbrecherprozesse" sagte Michalski dem WDR.
Leonid Bolgarow und seine Mitstreiter sind mittlerweile wieder in Odessa. Als freiwilliger Kaplan für die Armee trägt Bolgarov beim Gebet Uniform. An seine Zeit in Russland will er sich möglichst nicht mehr erinnern.
Hintergrund: Wann spricht man von Folter - wann von Misshandlung?
Der Begriff "Folter" ist in der Antifolterkonvention der Vereinten Nationen definiert: Nach Artikel 1 der Konvention versteht man unter Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um
- von der Person oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen
- sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen
- sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen
Zur Definition von Folter gehört laut der Konvention außerdem, dass sie durch staatliche Organe oder eine andere in amtlicher Eigenschaft handelnde Person ausgeführt wird - oder zumindest auf deren Veranlassung oder mit deren "ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis".
Auch wenn es in manchen Fällen dem üblichen Sprachgebrauch widerspricht: Wenn die genannten Voraussetzungen fehlen, dann handelt es sich nicht um Folter - zumindest nach der UN-Definition. Gewöhnlich spricht man in diesen Fällen von Misshandlungen.