Analyse: NRW-Wählermehrheit will neue Koalition

Stand: 16.05.2022, 10:09 Uhr

Geschlagene Liberale, frustrierte Sozialdemokraten, jubelnde Grüne und CDUler - der Wahlabend in NRW brachte klare Verlierer und Gewinner hervor. Die Wählerschaft mischt wieder einmal die Regierungsbank auf. Eine Analyse.

Von Martin TeiglerMartin Teigeler und Martin Teigeler

Schwarz-Gelb, 2017 noch als "NRW-Koalition" voller Elan gestartet, ist Geschichte in Nordrhein-Westfalen. Die Wählerinnen und Wähler im bevölkerungsreichsten Bundesland haben die ohnehin minimale Mehrheit dieser Regierung bei der Landtagswahl einkassiert. Ministerpräsident Hendrik Wüst von der gestärkten CDU bedankte sich am Wahlabend mit knappen Worten beim abgestraften Noch-Koalitionspartner FDP für die gute Zusammenarbeit - das war's. Nächstes Kapitel.

Wechsel-dich-Spiel in der Landesregierung

Damit ist in den letzten 20 Jahren nur ein einziges Mal eine Regierungskoalition in NRW wiedergewählt worden: Zuletzt gelang es 2012 der 2010 gestarteten rot-grünen Regierung von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), vom Wahlvolk bestätigt zu werden. 2005 ging Rot-Grün unter, 2010 erlitt Schwarz-Gelb eine schwere Schlappe - und 2017 straften die Wählerinnen und Wähler dann erneut Rot-Grün ab.

Wahlergebnisse NRW 2022

Wie ist die Wahl in meinem Wahlkreis oder Ort ausgegangen?

FDP verbittert und geschlagen

Der FDP-Landesvorsitzende Joachim Stamp

Der FDP-Landesvorsitzende Joachim Stamp

Bei dieser Landtagswahl traf der Zorn der Wahlberechtigten mit voller Härte die FDP. Von 12,6 Prozent brachen die Liberalen ein auf 5,9 Prozent, so das vorläufige Endergebnis. Zwischenzeitlich musste die FDP sogar fürchten, wie in den 1990er-Jahren aus dem Landtag zu fliegen. Vize-Ministerpräsident Joachim Stamp, der laut Umfragen alles andere als ein populärer Spitzenkandidat war, zeigte sich in Interviews am Wahlabend teils etwas verbittert über die CDU: "Man muss feststellen, dass unser Koalitionspartner nicht besonders viel Rücksicht genommen hat im Wahlkampf."

Die CDU habe sich "teilweise mit Federn unserer Erfolge geschmückt" - als Beispiele nannte er die "Entfesselungspolitik" von Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) sowie die Talentschulen in NRW. Zugleich räumte Stamp Fehler in FDP-Ministerien beim Management der Corona-Pandemie ein. Vor allem das bislang von den Liberalen geführte Schulministerium avanciert so langsam zum Seuchenressort der Landesregierung: 2017 wurde es bereits den Grünen zum "Verhängnis".

SPD mit einer schweren Niederlage

Der zweite große Verlierer des Abends neben den Liberalen sind die Sozialdemokraten. Spitzenkandidat Thomas Kutschaty fuhr das schlechteste SPD-Landtagswahlergebnis in der Geschichte des Landes NRW ein. Bei vier der letzten fünf NRW-Landtagswahlen wurden die Genossen damit nur zweite Kraft hinter der CDU: 2005, 2010, 2017 und 2022. Nur 2012 lag die SPD klar vorn. Zwar schnitt die SPD am Sonntag mit gut 26,7 Prozent etwas besser ab als bei den Kommunalwahlen 2020 (24,3 Prozent), aber deutlich schwächer als bei der Bundestagswahl (29,1 Prozent).

Kutschaty verhielt sich gerade in den TV-Debatten mit Wüst auffallend zurückhaltend. Auch wenn es in Kriegs- und Krisenzeiten wohl kaum passend gewesen wäre, den Amtsinhaber mit scharfer Rhetorik frontal anzugehen, war die "nette" Art offenbar die falsche Strategie. Da hilft dem Ex-Justizminister auch kaum der Hinweis, dass die SPD ja besser dastehe als noch vor ein, zwei Jahren. Kutschaty selbst räumte ein, die SPD-Wähler nicht ausreichend mobilisiert zu haben - da nützten auch Plakate und Auftritte zusammen mit Kanzler Olaf Scholz nichts.

Schwaches Ampel-Flackern

Dass die beiden Wahlverlierer SPD und FDP irgendwie doch regieren können, erscheint unwahrscheinlich. Rechnerisch gibt es laut Hochrechnungen eine Mehrheit für eine Ampel im neuen Landtag. Doch FDP-Landeschef Stamp winkt ab: Es seien andere am Zug, die Regierung zu bilden. Ausschließen dürfe man Gespräche unter demokratischen Parteien allerdings nicht, um eine "Regierungsunfähigkeit" zu vermeiden. Es gebe mit CDU und Grünen zwei klare Wahlgewinner.

SPD-Landeschef Kutschaty ist weiter für Gespräche zwischen allen demokratischen Parteien, aber angesichts der SPD-Verluste formuliert er keinen Anspruch mehr auf die Regierungsbildung. Kurz nach 18 Uhr hatte das bei ihm und anderen Genossen noch forscher geklungen.

Erstmals Schwarz-Grün in NRW?

Hendrik Wüst

Armin Laschet und sein Nachfolger Hendrik Wüst am Wahlabend

Das Heft des Handels in der Landespolitik liegt nun bei CDU und Grünen. Laschet-Nachfolger Wüst ist es gelungen, bürgerliche Wähler (teils auf Kosten der FDP) zu mobilisieren - besonders bei den Älteren kam er gut an. Und Grünen-Spitzenkandidatin Mona Neubaur, laut Umfragen als Person eher unbekannt, hat es geschafft, die Popularität ihrer Partei mit einer positiven und sachorientierten Wahlkampagne in NRW gewinnbringend einzusetzen.

Ob es aber tatsächlich zu einer stabilen politischen Partnerschaft zwischen der CDU eines Herbert Reul oder Bodo Löttgen und dem zumindest traditionell eher linken Landesverband der Grünen kommt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.

Wahlanalyse in Zahlen: Wer wanderte wohin?

Wohin sind die Wählerinnen und Wähler der FDP gewandert? Und wie stark war der Kandidatenfaktor von CDU-Spitzenkandidat Hendrik Wüst? Der Blick in die Zahlen verrät interessante Details.

Was kommt nach Schwarz-Gelb? Nach dem Absturz der FDP bei der Landtagswahl scheinen die Zeichen in NRW auf Schwarz-Grün zu stehen. Beide Parteien hätten zusammen eine stabile Mehrheit im Landtag - und offenbar auch die Unterstützung ihrer Wähler. 51 Prozent der CDU-Wähler und 47 Prozent der Grünen-Wähler fänden eine gemeinsame Koalition gut. Vor einer Woche in Schleswig-Holstein war die Zustimmung der Grünen noch größer.

Dass die CDU in NRW wieder stärkste Kraft werden könnte, hatte sich schon vorher abgezeichnet. In einer Befragung von Infratest dimap waren 48 Prozent der Befragten mit der Arbeit von Hendrik Wüst und 46 Prozent mit der Arbeit seines Innenministers Herbert Reul zufrieden. Mit der Spitzenkandidatin der NRW-Grünen waren zwar nur 22 Prozent zufrieden - den Grünen verhalf aber offenbar Rückenwind aus Berlin zu ihrem historisch bestem Ergebnis.

Denn mit der Arbeit von Annalena Baerbock und Robert Habeck in Berlin sind 67 bzw. 64 Prozent der Befragten zufrieden. Erst danach folgt mit 50 Prozent Kanzler Olaf Scholz.

Aber warum hat die FDP in NRW so dramatisch verloren? Offenbar war die Übernahme des Schulministeriums nach der letzten Wahl ein schwer kalkulierbares Risiko. 66 Prozent der Befragten finden: "Das FDP-geführte Schulministerium hat in der Corona-Pandemie versagt."

Die meisten ehemaligen FDP-Wählerinnen und -Wähler (genau: 260.000) sind zur CDU gewandert. FDP-Chef Stamp hat wohl nicht zu Unrecht beklagt, dass die CDU im Wahlkampf wenig Rücksicht auf die Liberalen genommen hat. Einen großen Teil hat die FDP aber auch an die Grünen und an die Nihctwähler verloren. 20.000 ehemalige FDP-Wählerinnen und Wähler haben ihr Kreuz bei der AfD gemacht.

Die CDU hat ihren Wahlsieg vor allem den älteren Wählerinnen und Wählern zu verdanken. In der Gruppe der über 70-Jährigen liegt der Anteil der CDU-Wählerinnen und -Wähler sogar bei 50 Prozent. Hinzu kommt: Die Wahlbeteiligung der Älteren ist höher als bei den Jüngeren.

Auch die SPD kann eher bei den älteren Wählerinnen und Wählern punkten. Allerdings zeigt sich hier das Mobilisierungsproblem der SPD: Bei den über 60-Jährigen erzielte die SPD nur gut 30 Prozentpunkte.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich dagegen bei den Grünen. Ihre Wählerinnen und Wähler sind eher jung. Den größten Anteil von 28 Prozent erreicht die Partei bei den 18-24-Jährigen.

Bei diesen jungen Wählern kann auch die FDP punkten, allerdings nicht im gleichen Maße wie die Grünen.

Die Wählerinnen und Wähler der AfD sind eher im mittleren Alter. Ihren größten Stimmenanteil von 8 Prozent erreicht sie bei den 35-44-Jährigen.

Der Kandidatenfaktor sagt aus, wie groß der Kandidat die jeweilige Wahlentscheidung beeinflusst hat. Bei der CDU hat jede dritte Wählerin bzw. jeder dritte Wähler das Kreuz gemacht, um den Spitzenkandidaten Hendrik Wüst zu unterstützen.

Zum Vergleich: Der Kandidatenfaktor bei Joachim Stamp liegt nur bei 9. Christian Lindner kam bei der Landtagswahl 2012 noch auf einen Wert von 31.

Der WDR berichtet am Montag in zahlreichen Sendungen in Hörfunk und Fernsehen über die Ergebnisse und Folgen der Landtagswahl in NRW. So in allen Ausgaben von WDR aktuell im WDR Fernsehen um 12.45 Uhr, 16.00 Uhr, 18.00 Uhr und 21.45 Uhr. Außerdem in der "Aktuellen Stunde" um 18.45 Uhr. Um 20.15 Uhr wird ein WDR extra ausgestrahlt. Im Hörfunk thematisiert unter anderem WDR 5 die Landtagswahl im Tagesgespräch um 12.10 Uhr, in einem WDR 5 spezial um 13 Uhr, im Westblick um 17.04 Uhr sowie im Echo des Tages um 18.30 Uhr.