
80 Jahre Kriegsende: Wie steht es um die Erinnerungskultur an Schulen?
Stand: 08.05.2025, 06:26 Uhr
Gleichgültigkeit und Unwissen im Erinnern an die NS-Zeit? Lehrer warnen und fordern, den Geschichtsunterricht in NRW zu stärken.
Von Martina Koch
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Zu den Kommentaren [6]Die Klasse 9d des Apostelgymnasiums in Köln behandelt in dieser Woche den Beginn der NS-Zeit, analysiert im Geschichtsunterricht das Parteiprogramm der NSDAP von 1920. Holocaust und Zweiter Weltkrieg waren noch nicht dran.
Die Klasse hatte - wie alle Klassen in NRW - seit dem Wechsel auf die weiterführende Schule keinen durchgängigen Geschichtsunterricht. Manche Schüler, wie Alice Röhrig finden das schade, denn in der siebten Klasse stand Geschichte gar nicht auf dem Stundenplan. "Da musste man sich erst wieder richtig reinleben, in den Flow kommen, damit man Sachen jetzt so analysiert und versteht".
NRW bei Geschichtsunterricht im Mittelfeld

Unterricht bei Geschichtslehrer Frank Schweppenstette
Das ist aber ganz normal: In NRW haben Schülerinnen und Schüler bis zur 10. Klasse mit Unterbrechungen insgesamt vier Unterrichtsjahre Geschichte. In anderen Bundesländern wie Bayern, Baden-Württemberg , Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Sachsen gibt es dagegen mindestens ein Schuljahr mehr und durchgängigen Unterricht. Das hätten sich viele in der 9d gewünscht. Auch ihr Geschichtslehrer, Frank Schweppenstette fordert schon lange mehr Zeit für Geschichte und durchgängigen Unterricht ab Klasse 5 in NRW. Er spricht auch für die Geschichtslehrerverbände im Bund und im Land.
Landesregierung sieht keinen Handlungsbedarf

Dorothee Feller (CDU)
Schulministerin Dorothee Feller (CDU) sieht keinen Grund etwas zu ändern. Der Stundenplan sei abgestimmt mit allen Bundesländern. Im Interview mit dem WDR sagt sie: "Es ist nicht nur Aufgabe des Geschichtsunterrichts. Erinnerungskultur und Demokratiekompetenz sind Querschnittsaufgaben." Das sei für alle Fächer bedeutend und könne so auch schon in der fünften Klasse beginnen. Am Kölner Gymnasium hätten sie nur in Religion und Philosophie mal über Antisemitismus gesprochen, erzählen die Schüler dem WDR.
Bleibt Erinnerungskultur auf der Strecke?
Eine NS-Gedenkstätte haben die Neuntklässler noch nicht besucht. Viele Schulen bieten das erst in der gymnasialen Oberstufe an. Dabei hatte Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in seiner Neujahrsansprache am 1. Januar 2024 erklärt:
Ich möchte, dass jede Schülerin und jeder Schüler einmal im Schulleben die Chance hat, ein KZ oder eine NS-Gedenkstätte zu besuchen. So erreichen wir die Herzen junger Menschen. So hat Antisemitismus keine Chance. Hendrik Wüst (CDU), NRW Ministerpräsident
Dafür stellt das Land 2,5 Millionen Euro an Fördergeldern zu Verfügung. Die seien bislang nicht ausgeschöpft, so die Schulministerin. Sie will alle Schulen ermutigen, davon Gebrauch zu machen. Doch das sei noch mit viel bürokratischem Aufwand verbunden, so Frank Schweppenstette. Der Geschichtslehrerverband fordert deshalb die Finanzierung zu vereinfachen.
Gedenkstättenbesuche in Verantwortung der Schulen
Für die Schülerinnen und Schüler der Janusz-Korczak-Gesamtschule Neuss ist ein Gedenkstättenbesuch möglich, zumindest in Krefeld oder Düsseldorf, erklärt Schulleiter Achim Fischer. Er wünscht sich aber für solche Fahrten ein Budget für die Schule. Ein paar seiner Schüler konnten im Januar zusammen mit Schulministerin Feller nach Auschwitz, ins ehemalige Konzentrationslager reisen. "Auschwitz hat uns verändert", sagte die Gruppe hinterher.

Ministerin Feller (CDU) und Schüler besuchen Auschwitz
Die Emotionen, die man dort fühle, das könne man nicht aus Büchern lernen, findet die 17-jährige Naz Bitmez. Und Ole Seidel, 16, müsse jetzt noch daran denken, wie bedrückt er sich gefühlt hatte. Seit dieser Erfahrung finden die beiden Schüler, dass ein NS-Gedenkstättenbesuch für alle Schülerinnen und Schüler Pflicht sein sollte.
Besuch von NS-Gedenkstätten in Bayern und im Saarland Pflicht
In Hamburg überlegt die Regierung derzeit, ob solche Besuche Pflicht werden sollen. In Bayern steht der verpflichtende Besuch einer KZ-Gedenkstätte oder eines Erinnerungsortes für die Jahrgangsstufe 9 an Gymnasien und Realschule sogar fest im Lehrplan. Und auch im Saarland hat der Landtag im letzten Dezember beschlossen, dass alle Schülerinnen und Schüler mindestens einmal eine Gedenkstätte oder ein Konzentrationslager im Laufe ihrer Schulzeit besuchen sollen.
Die schulpolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Franziska Müller-Rech fordert dies nun auch für NRW. "Der Ministerpräsident darf nicht nur Versprechen abgeben, er muss sie auch einlösen. Für die Schulen bedeutet das: Gedenkstättenfahrten ohne bürokratische Hürden und mit ausreichender Finanzierung. Die Zeit drängt!"
Künftigen Geschichtslehrkräfte wird Besuch von NS-Gedenkstätten in NRW ermöglicht
Frank Schweppenstette unterrichtet nicht nur am Gymnasium in Köln, sondern bildet auch zukünftige Lehrkräfte für das Fach Geschichte aus. Mit 15 dieser Referendare war er im April erst im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar (Thüringen). Das sei privat über eine Stiftung finanziert worden, so Schweppenstette. Für die Gruppe von doppelter Bedeutung.

Geschichtslehrer Frank Schweppenstette
Carolin Wäschenbach zum Beispiel war zum ersten Mal überhaupt in einem ehemaligen KZ. Sie sei froh und dankbar, dass erstmal ohne Schülerinnen und Schüler zu erleben. "Man kennt die Fakten, aber selbst dort zu sein, ist etwas anderes", so die künftige Geschichtslehrerin. Der Besuch ist auch für angehende Lehrkräfte ein emotionaler Moment. Für Cynthia Knakowski war es daher hilfreich zu lernen, wie man so einen Besuch vorbereiten und nachbereiten muss und welche Angebote die Gedenkstätten machen. "Wenn ich eine Gedenkstättenfahrt planen sollte, weiß ich jetzt wie es geht", sagt Cynthia Knakowski.
Die Landesregierung finanziert immerhin seit diesem Jahr solche Bildungsfahrten - zumindest zu den 32 NS-Gedenkstätten in NRW. Carolin Wäschenbach findet dieses Programm super, Cynthia Knakowski dagegen glaubt, dass Geschichtslehrkräfte unabhängig von solchen Programmen auch selbstständig in entferntere Gedenkstätten, wie zum Beispiel Buchenwald fahren sollten.
Unsere Quellen:
- Schulministerium NRW
- Verband der Geschichtslehrerinnen und -leher Deutschlands e.V. (VGD)
- Geschichtslehrerverband NRW
- Schülerinterviews vor Ort
- Kultusministerien Bayern und Saarland
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6 Kommentare
Kommentar 6: Franziska 1 schreibt am 09.05.2025, 22:43 Uhr :
Erinnerungskultur zu pflegen mit Unterricht in Schulen, wäre bei anderen Themen ebenfalls wünschenswert. Zum Bsp. der Rassismus der noch verbreitert auf der Welt lebt. Dunkelfarbige Menschen aus Afrika, werden nicht als gleichwertig gesehen. Vor Gott ist jeder Mensch gleich. Gut, dass Kleinkinder meisten damit kein Problem haben, aber leider noch Erwachsene. Der Antisemitismus lebt auch noch unter uns. War Opa ein Nazi, die Antwort darauf dürfte für einige Familien noch im Kopf rumgehen. Unsere Zeitzeugin ist jetzt mit 103 Jahren gestorben, ihre schlimme Erinnerung war lebens(haft)lang vorhanden. Deutschland darf sie nie vergessen!
Kommentar 5: Paul S. schreibt am 09.05.2025, 18:01 Uhr :
Bei der Erinnerungskultur in Schulen, will ich nicht verstehen, warum der Geschichtsunterricht in vielen Bundesländern anderes ist. Dieses Thema ist wichtig für alle Kinder. Ob Land oder Stadt. Ob im Norden oder Süden. Oder ist das Interesse daran in manchen Land anders, weil es in ihren Land weniger vorkam, was in dieser Zeit früher passierte? Besuch von NS-Gedenkstätten in Bayern und im Saarland ist Pflicht. In Hamburg überlegt die Regierung derzeit, ob solche Besuche Pflicht werden sollen. Zitat. Mir unverständlich diese Uneinigkeit.
Kommentar 4: Hausärztin schreibt am 09.05.2025, 10:52 Uhr :
Danke für diesen hervorragenden Beitrag, der das kollektive Bewusstsein in NRW so gut verstehen lässt.
Kommentar 3: Theo schreibt am 09.05.2025, 01:21 Uhr :
Erinnerungskultur ist Instrumentalisierung der Nazi-Keule, Erinnerung ist Geschichtsunterricht. Das ist heute kaum noch zu trennen, Spaltung der Gesellschaft ist Folge. Würde man nicht bei jedem Versuch Migration irgendwie zu steuern gleich mit der Nazi-Keule eindreschen, hätte Rechts längst nicht den Zulauf der heute in ganz Europa zu beobachten ist. Geschichtsunterricht zu stärken und „betreutes Denken“ einbauen kann so nicht funktionieren. Jede Zeit hat eigene Probleme und braucht eigenen Lösungen.
Antwort von Brigitta S. , geschrieben am 09.05.2025, 11:26 Uhr :
Beruf ist Beruf auch beim Personal in der Schule. Was denken alle Lehrer privat? Ein vorgelegter Erinnerungskultur - Geschichtsunterricht kann ermüden, Kinder sind sind Kinder. Bücher von dieser Zeit ihnen für zuhause in die Hand drücken und dann in der Schule darüber diskutieren, es wäre mitunter sinnvoll.
Kommentar 2: Franziska 1 schreibt am 08.05.2025, 23:20 Uhr :
"Bleibt die Erinnerungskultur auf der Strecke"? Irgendwann in Zukunft kann es so kommen, wenn die Welt jetzt sich wieder kriegstüchtig macht. Siehe die vorhandenen brutalen Kriege. Ich finde die schulische Erinnerung für Kinder sehr wichtig. Aber eindrucksvoller könnten es die Münder der Senioren im hohen Alter den Kinder vermitteln. Sie haben diese Zeit als Kinder selbst noch erlebt. Schule ist Schulunterricht nach Vorschrift aus den Büchern. Kein Lehrer/in unter 70 Jahren kann emotional den Kindern die Nazizeit und KZ- Lager vor Augen halten. Aber Zeitzeugen die noch leben. Nur wer die Zeit als Kind miterlebte und die Zeit danach, der kann den eindruckvollsten Geschichtsunterricht geben.
Kommentar 1: Anonym schreibt am 08.05.2025, 15:51 Uhr :
In den 70 ziger Jahren waren noch zu viele ehmalige nazis in der Schule und mussten sich Gott sei Dank viel anhören. Gab damals viele Diskussionen