Ein Glück, dass es die Stichwahl gibt

Stand: 25.09.2020, 06:00 Uhr

Dass am kommenden Sonntag die Wähler noch einmal abstimmen dürfen, haben sie einem Gerichtsurteil zu verdanken. Blickt man auf manche Ergebnisse des ersten Wahlganges, muss man sagen: Danke Verfassungsgericht!

Von Nina Magoley und Rainer Striewski

Gerade einmal 94 Wählerstimmen trennen im ersten Wahlgang die ehemalige Greenpeace-Chefin Monika Griefahn (SPD) von ihrem Konkurrenten Marc Buchholz von der CDU. Beide hatten sich um den Oberbürgermeister-Posten in Mülheim an der Ruhr beworben.

Weil aber keiner von beiden mit rund 25 Prozent Zustimmung auch nur annähernd die absolute Mehrheit erreichte, müssen sie in der Stichwahl gegeneinander antreten. Gut 130.000 Wahlberechtigte gibt es in Mülheim. Knapp 16.500 hatten jeweils für Buchholz und Griefhahn gestimmt, weniger als 13 Prozent aller Menschen, die in Mülheim wählen dürfen.

Knappe Ergebnisse auch in anderen Orten

Zwei Porträtfotos: Marc Buchholz (links) und Monika Griefahn (rechts)

Stichwahl in Mülheim: Buchholz vs. Griefahn

Ähnlich knapp fiel das Ergebnis für die beiden OB-Kandidaten in Emsdetten aus: Dort erhielt der grüne Kandidat 5.258 Stimmen, sein SPD-Konkurrent 4.910 - von 25.542 Wahlberechtigten. Ohne Stichwahl hätte der Gewinner immerhin knapp 18 Prozent der Wahlbevölkerung hinter sich.

In Orten wie Unna, Fröndenberg, Kleve oder im Kreis Steinfurt ist die Lage vergleichbar. Auch dort stehen Stichwahlen an zwischen Kandidaten, die im ersten Wahlgang nur einen kleinen Teil der Wähler für sich gewinnen konnten.

Gäbe es die Stichwahl nicht, stünden in all diesen Städten nun gewählte Politiker den Verwaltungen und den Räten vor, denen nur ein kleiner Bruchteil der Wähler ihre Zustimmung gegeben hat. Bei keinem könnte man davon sprechen, dass sie die Mehrheit in der Stadt repräsentieren.

Zweikampf um die Rathäuser

In insgesamt 128 NRW-Kommunen kommt es am 27. September zur Stichwahl um die Posten der Bürgermeister, Oberbürgermeister oder Landräte: überall dort, wo keiner der Kandidaten im ersten Durchgang am 13. September die absolute Mehrheit der Stimmen, also mindestens 50 Prozent, erreichte. Bei der Stichwahl stehen sich nur noch die zwei Kandidaten gegenüber, die aus dem ersten Wahlgang als Nummer eins und Nummer zwei hervorgingen. Wahlsieger ist, wer am Ende die meisten Stimmen bekommt.

Allein in 15 von 22 kreisfreien Städten müssen sich OB-Kandidaten einem Duell stellen. Und in 11 von 31 Kreisen gibt es Zweikämpfe darum, wer Landrat oder Landrätin wird.

OB-Duelle: Die Stichwahlen am 27. September

Von Sabine Tenta

In 15 kreisfreien Städten müssen sich diese Kandidat*innen am 27. September einer Stichwahl stellen. Eine Übersicht der umkämpften OB-Sessel im Land.

Düsseldorf: Spannender als erwartet wird es in der Landeshauptstadt. Amtsinhaber Thomas Geisel (SPD) muss nicht nur in die Stichwahl gegen den Stadtdirektor aus Köln, Stephan Keller. Mit seinen 26,3 Prozent ist Geisel sogar mit deutlichem Abstand auf Platz zwei hinter Keller (34,2 Prozent) gelandet. Nun hofft die CDU auf einen prestigeträchtigen Erfolg in Düsseldorf am 27.09.2020.

Krefeld: Kein Durchmarsch für Amtsinhaber Frank Meyer (SPD). Er muss in die Stichwahl, startet aber mit 43,4 Prozent von einer komfortablen Position gegen die CDU-Kandidatin Kerstin Jensen, die im ersten Wahlgang 27,6 Prozent bekam.

Mönchengladbach: Wenn ein Amtsinhaber nicht wieder antritt, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. So zum Beispiel in Mönchengladbach, wo die SPD Chancen hat, die traditionell schwarz regierte Stadt zurückzuerobern. Zwischen 2004 und 2014 gab es einen SPD-OB, dann einen von der CDU und nun geht die SPD mit Felix Heinrichs (37,5 Prozent) als Erstplatziertem ins Stichwahl-Rennen gegen Frank Boss (CDU, 29,6 Prozent).

Mülheim an der Ruhr: Die Ausgangslage für die Stichwahl ist ein denkbar knappes Kopf-an-Kopf-Rennen. Auf Platz 1 landete mit hauchdünnem Vorsprung der Christdemokrat Marc Buchholz mit 25,4 Prozent der Stimmen. Die SPD-Politikerin Monika Griefahn erzielte 25,3 Prozent. Bei der Stichwahl wird sich zeigen, ob die Mitbegründerin der deutschen Sektion von Greenpeace und ehemalige niedersächsische Umweltministerin das rote Rathaus für die SPD halten kann.

Oberhausen: 2015 eroberte Daniel Schranz für die CDU das rote Oberhausen im ersten Wahlgang, nun muss der Amtsinhaber in die Stichwahl. Sein Vorsprung ist deutlich, er konnte 45,5 Prozent auf sich vereinen, SPD-Herausforderer Thorsten Berg lediglich 29,7 Prozent.

Wuppertal: Zur Euphorie der Grünen nach der ersten Runde der Kommunalwahlen trägt auch das Ergebnis aus Wuppertal bei. Der auch von der CDU unterstützte grüne OB-Kandidat Uwe Schneidewind hat aus dem Stand 40,8 Prozent geholt! Der ehemalige Präsident des renommierten "Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie" geht als Erstplatzierter in die Stichwahl mit dem Amtsinhaber Andreas Mucke (SPD, 37,0 Prozent).

Bonn: Erst bei der letzten Kommunalwahl hatte CDU-Mann Ashok-Alexander Sridharan das rote Bonn geknackt und muss nun um die Wiederwahl fürchten. Denn Katja Dörner von den Grünen zwingt ihn in die Stichwahl. Auch wenn Sridharan mit 34,5 Prozent klar vor Dörner mit 27,6 Prozent der Stimmen liegt, ist das Rennen offen. Wie bei jeder Stichwahl im Land gilt auch hier: Entscheidend ist, wie sich die Wähler*innen entscheiden, die zuvor die anderen Kandidat*innen unterstützten.

Köln: Nach der Vorwahl-Umfrage des WDR, mit der Prognose eines klaren Wahlsiegs von Amtsinhaberin Henriette Reker (parteilos, unterstützt von CDU und Grünen) im ersten Wahlgang, waren sich in Köln die meisten sicher: Das Rennen ist gelaufen. Doch Reker liegt mit 45,1 Prozent deutlich unter der absoluten Mehrheit. Nun hat Andreas Kossiski (SPD) eine zweite Chance. Doch seine 26,8 Prozent aus dem ersten Wahlgang dämpfen eventuelle Hoffnungen auf einen Wechsel im Rathaus.

Leverkusen: 2015 wurde Uwe Richrath (SPD) im ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister gewählt, fünf Jahre später muss er in die Stichwahl. Mit 46,1 Prozent der Stimmen landete er aber deutlich vor seinem Herausforderer Frank Schönberger (CDU), der 23,4 Prozent errang.

Gelsenkirchen: Kann SPD-Kandidatin Karin Welge das Erbe ihres überaus beliebten Parteikollegen und langjährigen OB Frank Baranowski antreten? Baranowski hört auf und hinterlässt mit seinem letzten Wahlsieg von 67,4 Prozent große Fußstapfen. Welge holte im ersten Wahlgang 40,4 Prozent. Sie hat damit gute Chancen gegen den CDU-Kandidaten Malte Stuckmann, der auf 25,1 Prozent kam.

Münster: Peter Todeskino bittet immer wieder darum, die zweite Silbe in seinem Namen zu betonen ("To-DES-kino"), sein Name habe nichts mit Kino zu tun, wird der grüne Kandidat nicht müde zu wiederholen. Seinen Namen und seine korrekte Aussprache werden sich nun landesweit mehr Menschen merken, denn Todeskino bescherrt Amtsinhaber Markus Lewe (CDU, 44,6 Prozent) den Gang in die Stichwahl. Todeskino, der mit 28,5 Prozent ins Rennen geht, müsste deutlich mehr neue Wähler*innen hinzugewinnen.

Bielefeld: Amtsinhaber Pit Clausen (SPD) musste bei dieser Kommunalwahl deutlich Federn lassen: 2014 war er noch mit klaren 55,9 Prozent im ersten Wahlgang gewählt worden, nun sind es nur noch 39,6 Prozent. In die Stichwahl geht er gegen CDU-Kandidat Ralf Nettelstroth, der 29,3 Prozent errang.

Dortmund: Das sozialdemokratische Urgestein Herbert Wehner hatte einst die Herzkammer der Sozialdemokratie in Dortmund verortet. Nachdem der langjährige Amtsinhaber Ullrich Sierau (SPD) nicht wieder angetreten ist, beschert die CDU den Genossen ein nervöses Herzflimmern: Thomas Westphal (SPD) geht zwar mit zehn Prozentpunkten Vorsprung in die Stichwahl (35,9 Prozent) gegen Andreas Hollstein (CDU, 25,9 Prozent). Aber wenn Hollstein es schafft, die grünen Wähler*innen zu überzeugen, hat er durchaus Chancen, nach Altena, wo er zuvor Bürgermeister war und Opfer eines Messerattentats wurde, auch die drittgrößte Stadt NRWs zu regieren.

Hamm: Landesweit bekannt wurde Thomas Hungsteger-Petermann (CDU) als Vorsitzender des Städtetages NRW. In seiner Heimatstadt Hamm regiert er seit 1999 und gehört damit zu den dienstältesten Oberbürgermeistern in NRW. 2014 noch mit satten 56, 3 Prozent im ersten Wahlgang bestätigt, muss er nun in die Stichwahl - als Zweitplatzierter (37,4 Prozent). Der Landtagsabgeordnete Marc Herter (SPD) erzielte 40,7 Prozent und könnte für die Sozialdemokraten einen wichtigen Sieg einfahren.

Langer Streit um Stichwahl

In der Vergangenheit war die Stichwahl für Bürgermeister und Landräte ein echter Zankapfel. Die Regierungsfraktionen von CDU und FDP hatten die Stichwahl im April 2019 per Landtagsbeschluss abgeschafft. Doch das NRW-Verfassungsgericht erklärte dies im Dezember 2019 für rechtswidrig.

Zuvor gab es ein ständiges Hin- und Her: Eingeführt 1994 von der SPD-Regierung, schaffte die von Jürgen Rüttgers (CDU) geführte schwarz-gelbe Koalition die Stichwahl 2007 wieder ab. Zentrales Argument: Sinkende Wahlbeteiligung. Zu viele Wahlen führen zu Wahlmüdigkeit.

Fortan reichte bei den Kommunalwahlen die relative Mehrheit für die Wahl von Bürgermeistern oder Landräten. 2011 sorgte die von SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geführte rot-grüne Regierung für eine Wiedereinführung der Stichwahl.

"Problematisch" für die Demokratie

Das Argument für die Stichwahl war stets, dass mit relativer Mehrheit gewählte Bewerber nicht die Mehrheit der Wähler vertreten. Allein eine relative Mehrheit sei keine ausreichende demokratische Legitimation für ein derart herausgehobenes Amt, stellte Frank Bätge, Professor an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, in einer Bewertung für den Landtag fest.

Und er verweist auf den Umkehrschluss: "Ein Wahlrecht, das bei einer Wahl des Hauptverwaltungsbeamten keine Stichwahl zulässt, akzeptiert es als hinreichend legitim, das im Falle des Erreichens einer nur relativen Mehrheit eine Mehrheit nicht für den Gewählten gestimmt hat." Mülheim, Emsdetten oder Unna wären für dieses Argument gute Beispiele.

Stimmzettel mit Kreuz

Für wen wäre das Kreuz gewesen?

Bei einer Direktwahl ohne Stichwahl bliebe ungeklärt, ob die Wähler der unterlegenen Kandidaten dem Sieger, der nur mit relativer Mehrheit ans Ziel kam, ihre Stimme gegeben hätten. Unter dem Aspekt der Demokratie sei das "problematisch", so Bätge. Besonders dann, wenn Kandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit ganz deutlich verfehlt hätten.

Ob es stimmt, dass die Sieger des zweiten Wahlganges meist mehr Stimmen erringen, als die der ersten Runde, werden wir sicherlich nach der Stichwahl berichten.

Idee "Integrierte Stichwahl"

Der Verein "Mehr Demokratie" plädiert zwar unbedingt für das Instrument der Stichwahl - aber in einer besonderen Form mit nur einem Wahlgang. Damit am Ende wirklich die Personen an die Spitze der Stadt oder Kommune kommen, mit denen der größte Anteil der Wählerinnen und Wähler am ehesten leben könnte, sollte es auf dem Wahlzettel die Möglichkeit geben, sämtliche Kandidaten mit Präferenzen durchzunummerieren, angefangen mit der eins für den persönlichen Favoriten.

Bei der Auszählung werden dann zunächst die Stimmzettel des Kandidaten mit den wenigsten Erstpräferenzstimmen auf die übrigen verteilt. Danach werden von den Übriggebliebenen wiederum die Stimmzettel des Kandidaten mit den wenigsten Stimmen auf die restlichen verteilt. Das Ganze setzt sich so fort, bis einer übrig bleibt, der oder die mehr als 50 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann.

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