Hinweis der Redaktion: Dieses Interview wurde vor dem Beschluss der Bundesregierung, der Ukraine mehr als eine Milliarde Euro Militärhilfe bereitzustellen, geführt. Die Infos dazu, gibt es hier:
Nicht nur FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu einer zeitnahen Entscheidung zur Lieferung schwerer Waffen wie Panzer für die Ukraine aufgefordert. Auch für den Politologen Herfried Münkler, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrte, ist die "Zeit der Zurückhaltung vorbei".
WDR: An welchem Punkt stehen wir im Ukraine-Krieg?
Herfried Münkler: Mit der sogenannten Umgruppierung der russischen Streitkräfte steht zu erwarten, dass es eine große russische Offensive geben wird im Donbass, die die Ukrainer versuchen werden abzuwehren.

Politologe Herfried Münkler
Es wird eine große Schlacht sein, die aber ganz anders sein wird als die bisherigen militärischen Aktionen der Russen. Die waren ja wesentlich auf die Eroberung von Städten und Vorstädten, also auf Häuser- und Straßenkampf ausgerichtet, mit dem sie nicht sonderlich erfolgreich gewesen sind. Die Russen versprechen sich jetzt durch eine sehr viel großräumigere Form der Kriegsführung, ihre materielle und zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber der Ukraine besser zur Geltung zu bringen.
WDR: Die Bundesregierung und der Kanzler geraten unter immer größeren Druck, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern. Ist die Lieferung jetzt nötig?
Münkler: Wenn man der Ukraine die Chance verschaffen will, bei dieser Schlacht um den Donbass die Russen zurückschlagen zu können, dann braucht sie schwere Waffen, also Panzer und Schützenpanzer.
"Die Herausforderung ist, der Eskalations-Fähigkeit Putins Entsprechendes entgegenzusetzen." Politologe Herfried Münkler
WDR: Geben deutsche Waffenlieferungen Putin nicht einen Vorwand für weitere Eskalation?
Münkler: Nach völkerrechtlicher Auffassung wird man durch die Lieferung von Waffen an Kriegsparteien nicht selber zur Kriegspartei. Ob das Putin auch so sieht, ist die Frage. Aber er hat nun mal die Eskalations-Dominanz in der Ukraine. Ich denke, es geht schon lange nicht mehr darum, sich möglichst klein und unsichtbar zu machen, um den Eindruck zu erwecken, es gebe diese Eskalations-Dominanz nicht und man habe mit all dem nichts zu tun. Die Herausforderung ist, der Eskalations-Fähigkeit Putins Entsprechendes entgegenzusetzen.
Die Frage an die deutsche Politik ist, was ist verantwortungsvoll. Ist es verantwortungsvoll, ständig mit einem Ohr am Tor des Kreml zu lauschen und zu hören, was möglicherweise den Herren dort nicht besonders gefällt. Das läuft auf Unterwerfungs-Pazifismus hinaus - man unterlässt alles, was Putin nicht gefallen könnte. Das heißt, man richtet seine eigene Politik an den Vorgaben aus dem Kreml aus.
WDR: Gibt es eine deutsche Verpflichtung, Waffen an die Ukraine zu liefern?
Münkler: Ja. Es war die Bundesregierung, die letzten Endes mit ihrem Veto den Beitritt Georgiens und der Ukraine in die NATO 2008 verhindert hat. Frau Merkel hat ja auch jetzt nochmal gesagt, diese Entscheidung sei richtig gewesen - vermutlich weil sie befürchtet hatte, das Putin gewissermaßen gleich darauf reagiert hätte, indem er die Ukraine angegriffen hätte. Dahinter steckte die Vorstellung, dass zwischen NATO und Russland ein Puffer ist, der sich durch Neutralität auszeichnet. Diese Vorstellung ist nun mal nicht aufgegangen aus Gründen vielfältiger Art.
"Und man will unter allen Umständen vermeiden, dass die Russen ihrerseits den Ölhahn und den Gashahn zudrehen, weil das erhebliche ökonomische Folgen für Deutschland hat. Das ist genau das, was ich Unterwerfungs-Pazifismus nenne." Politologe Herfried Münkler
WDR: Wie erklären Sie sich die Zögerlichkeit der Bundesregierung bezüglich der Waffenlieferungen?
Münkler: Man will sich vielleicht eine Vermittlerposition offen halten. Das ist aber natürlich kein besonders überzeugendes Rational, nachdem alle vorangegangenen Versuche in diese Richtung ja krachend gescheitert sind.
Und man will unter allen Umständen vermeiden, dass die Russen ihrerseits den Ölhahn und den Gashahn zudrehen, weil das erhebliche ökonomische Folgen für Deutschland hat. Das ist genau das, was ich Unterwerfungs-Pazifismus nenne. Man lässt sich gewissermaßen die Bedingungen des eigenen Handelns von der Gegenseite diktieren.
"Wer in der augenblicklichen Situation nicht bereit ist, diese Waffen in die Ukraine abzugeben, ist moralisch ein Lump." Politologe Herfried Münkler
WDR: Und das sehen Sie in der aktuellen Situation?
Münkler: Die Koalition ist in dieser Frage keiner einheitlichen Auffassung, vor allem die Außenministerin, aber offenbar auch Herr Habeck sind erkennbar für Waffenlieferungen. Es gibt offenbar vor allem in der Sozialdemokratie und vereinzelt auch bei den Grünen Kräfte, die das für das Überschreiten einer roten Linie halten. Aber diese rote Linie haben sie sozusagen selber in ihren Köpfen hingemalt. Wer in der augenblicklichen Situation nicht bereit ist, diese Waffen in die Ukraine abzugeben, ist moralisch ein Lump.
WDR: Kann man das Verhalten des Bundeskanzlers nicht auch als vernünftig in einer brenzligen Situation betrachten?
Münkler: Ich glaube, dass die Zeit der Zurückhaltung vorbei ist als eine tatsächliche politische Option. Ich habe den Eindruck, dass der Kanzler im Augenblick noch schwankt, aber er wird nicht vernünftig die deutschen Interessen wahrnehmen, wenn er dieses Schwanken, diese Unentschiedenheit fortsetzt. Denn wir befinden uns inzwischen längst in einer Situation des Zeitdrucks, in der es um Tage, wenn nicht Stunden geht.
"Diese Leute tun so, als würden sie verantwortlich wohlbedenkend agieren, aber ihre Bedenken reichen vielleicht fünf Zentimeter vor ihre Nasenspitze und nicht weiter." Politologe Herfried Münkler
WDR: Die CIA warnt, Putin könnte den Einsatz kleinerer Atomwaffen befehlen, wenn er sich militärisch zu sehr unter Druck gesetzt fühlt. Was halten Sie davon?
Münkler: Das kann man prinzipiell nicht ausschließen. Aber das ist das Aufrufen eines Szenarios mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Will man den Eintritt in eine neue Runde der Proliferation von Nuklearwaffen verhindern, dann gibt es nur eins: nämlich dafür zu sorgen, dass die Ukraine als selbstständiger Staat nicht untergeht.
Das gilt letzten Endes auch für die Bundesregierung und den ewigen Bremser Mützenich an der Spitze der SPD-Fraktion. Diese Leute tun so, als würden sie verantwortlich wohlbedenkend agieren, aber ihre Bedenken reichen vielleicht fünf Zentimeter vor ihre Nasenspitze und nicht weiter.
Das Interview führte Thomas Kramer.