Bilanz des Europawahlkampfs

Eine Kampagne mit ganz vielen Spitzenkandidaten

Stand: 10.05.2019, 12:57 Uhr

Es ist fast vorbei: Die Parteien in NRW kämpfen auf den letzten Metern um Stimmen für die Europawahl am Sonntag. Insgesamt stand der Wahlkampf für das EU-Parlament klar im Schatten des Wahlkampfs um die Macht in den Rathäusern - analysiert ein Politikwissenschaftler.

Von Martin Teigeler

Es war kein freundlicher Empfang für die Kanzlerin. Mit Buh-Rufen und lauten Trillerpfeifen empfingen mehrere Dutzend Demonstranten Angela Merkel am Freitag (23.05.2014) in der Düsseldorfer Altstadt. Vor dem Rathaus warb die CDU-Chefin auf der Abschlusskundgebung der Christdemokraten um Stimmen bei der Europawahl am Sonntag. Mehrere hundert Zuhörer waren gekommen. Merkel interpretierte den lautstarken Gegenprotest als Beleg für Meinungsfreiheit und Demokratie in Europa. "Man kann auch schreien. Das ist Frieden und Freiheit", sagte die Kanzlerin. Besser wäre es aber, wenn man sich gegenseitig zuhöre. Wer zuhören wollte, vernahm Merkels Aufruf, am Sonntag für das "Friedenswerk Europa" zu votieren. Zugleich verteidigte die Kanzlerin ihre umstrittenen Maßnahmen zur Rettung des Euro.

Inoffizielle EU-Spitzenkandidatin Merkel

Mit der Kanzlerin setzte die inoffizielle Spitzenkandidatin der CDU den Schlusspunkt im Europawahlkampf. Offiziell haben die Christdemokraten eine ganze Reihe von Spitzenkandidaten: Bewerber um den Chefposten in der EU-Kommission ist der frühere luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker. Spitzenkandidat der Bundes-CDU ist der ehemalige niedersächsische Ministerpräsident David McAllister. Die Landes-CDU bietet sogar zwei Spitzenkandidaten auf: den Rheinländer Herbert Reul und der Ostwestfale Elmar Brok. Tatsächlich aber dominiert die Kanzlerin. Auf vielen Plakaten der CDU ist Merkel abgebildet - obwohl sie gar nicht zur Wahl steht.

Juncker kämpfte gegen Widrigkeiten an

Jean-Claude Juncker

Der Luxemburger Juncker hatte es nicht ganz leicht in diesem Wahlkampf. Immer wieder gab es Spekulationen, dass er selbst bei einem Sieg der Konservativen nicht EU-Kommissionspräsident werde. Als Juncker Ende April die CDU-Landeszentrale in Düsseldorf besuchte, hatte er zudem Pech mit dem Timing. Statt über die Europapolitik zu reden, musste er vor allem Reporter-Fragen zur umstrittenen Teilnahme des CDU-Politikers Philipp Mißfelder an der Geburtstagsfeier von Ex-Kanzler Gerhard Schröder in Sankt Petersburg beantworten. Juncker fuhr mit seinem imposanten Wahlkampf-Bus vor der CDU-Zentrale vor. "Meine Kandidatur ist wirklich ernst gemeint", betonte er unverdrossen. Aber er warnte auffälliger Weise vor einer "Demokratie-Krise" in der EU. Als neuen Präsidenten der EU-Kommission müssten die Staats- und Regierungschefs nach der Wahl den Kandidaten der stärksten Partei vorschlagen, sagte Juncker. Wenn dies bei der Besetzung nicht berücksichtigt werde, müsse sich niemand wundern, wenn bei der nächsten Wahl noch weniger Bürger mitmachten. Das klang dann doch etwas misstrauisch gegenüber seinen Parteifreunden unter den Regierungschefs.

SPD-Mann aus NRW will an die Spitze

Für SPD-Mann Martin Schulz aus Würselen war es im Wahlkampf etwas leichter. Der EU-Parlamentspräsident ist der einzige Spitzenkandidat der europäischen und deutschen Sozialdemokraten, doch ob er bei einem Wahlsieg tatsächlich wie erhofft EU-Kommissionspräsident wird, ist keineswegs sicher. Dennoch rackerte sich Schulz wie Juncker im Wahlkampf auch in NRW ab. Bei einem Auftritt mit NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) in Dortmund nannte Schulz Anfang Mai als zentralste Herausforderung die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Die Krise in Europa sei erst dann vorbei, wenn die 27 Millionen Arbeitslosen in der EU wieder eine Perspektive hätten, mahnte er. Schulz will sich gegen hemmungslose Spekulanten an den Finanzmärkten stellen und stattdessen die Industrie in Europa verteidigen. "Wir brauchen eine gezielte Förderpolitik für die Industrie und mittelständische Unternehmen", sagte Schulz. Die SPD schloss ihren Europawahlkampf am Samstag (24.05.2014) in Aachen ab. Bei der Veranstaltung riefen Kraft und Schulz zur Wahlteilnahme und zur Absage an extreme Parteien auf. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte seine Teilnahme wegen einer Erkrankung abgesagt.

Grünen-Spitzenkandidat Sven Giegold aus Düsseldorf setzte vor allem auf Verbraucher-  und Wirtschaftsthemen. Der Attac-Mitbegründer warb für ein Ende des "europäischen Steuerdumpings" und mobilisierte gegen das Freihandelsabkommen mit den USA. Der bislang völlig unbekannte Hamburger Linken-Politiker Fabio De Masi tritt auf dem Ticket der NRW-Linkspartei an. Der Mitarbeiter von Sahra Wagenknecht will in Brüssel gegen Lohndumping kämpfen. Für die FDP führt der Bonner Alexander Graf Lambsdorff die Europaliste an. Der Liberale will Politik machen gegen "Gängelei" und "überflüssige Bürokratie". Er gehört dem EU-Parlament wie Brok, Reul, Giegold und Schulz bereits an. Da es bei der Wahl keine Sperrklausel gibt, ist der FDP-Einzug wohl sicher.

Wirbel um britischen Rechtspopulisten

Die "Alternative für Deutschland" (AfD) hat keinen offiziellen NRW-Spitzenbewerber. Auf einem Bundesparteitag fiel der vom zerstrittenen Landesverband nominierte Ex-Landeschef Alexander Dilger durch. Immerhin schaffte es der Bielefelder Anwalt Marcus Pretzell auf den siebten Platz der AfD-Bundesliste. Bei einem starken Abschneiden der Anti-Euro-Partei über 7 Prozent kann der Seiteneinsteiger auf ein EU-Abgeordnetenmandat hoffen. Doch Pretzell machte im Wahlkampf Negativschlagzeilen. Er saß demonstrativ im Publikum, als die Jugendorganisation der Partei Ende März in Köln den Chef der fremdenfeindlichen britischen Partei UKIP zur Diskussion empfing. Dafür handelte sich Pretzell eine Rüge des Bundesvorstands ein. Laut Pretzell ist der AfD-interne Streit aber längst wieder beigelegt.

Zahl der Wahlberechtigten schwankt

Eine Hand hält eine Karte mit der Europaflagge vor einem Plakat mit der Aufschrift "Wahllokal"

Europawahl: Jedes Jahr hunderte wichtige Entscheidungen im Parlament

In Nordrhein-Westfalen sind bei der EU-Wahl rund 13,3 Millionen wahlberechtigt. Das sind rund eine Million Wähler weniger als bei der Kommunalwahl. Stimmberechtigt sind bei der Kommunalwahl nämlich alle in der jeweiligen Gemeinde lebenden EU-Bürger, die mindestens 16 Jahre alt sind. Bei der Europawahl gilt hingegen die Altersgrenze 18 Jahre. Die Zahl der Wähler ist also etwas kleiner.   Abzuwarten bleibt, wie hoch die Wahlbeteiligung am Sonntag ausfällt. Bei der Europawahl im Juni 2009 machten nur knapp 42 Prozent der NRW-Wähler ihr Kreuz. An der Kommunalwahl Ende August 2009 nahmen etwa 52 Prozent der Stimmberechtigten teil.

Politik-Forscher: Kommunalwahl wichtiger

Für den Politologen Tim Spier von der Universität Siegen überlagerte der Kommunal- den Europawahlkampf. "Ich würde schon sagen, dass der Kommunalwahlkampf dominiert. Schon, weil die Kommunalwahl den Bürgern wichtiger ist. Denn dort geht es um lokal relevante Themen und ihnen oftmals bekannte Persönlichkeiten", sagte der Forscher zu WDR.de. Dass die NRW-Spitzenkandidaten eine größere Rolle spielen, glaubt Spier eher nicht. "Den meisten Wählern wird erst auf dem Wahlzettel bewusst, wer auf der Parteiliste steht." Wenn die Stimmberechtigten überhaupt zu Wahl gehen: Im ARD-DeutschlandTrend von Mitte Mai sagten mehr als die Hälfte (57 Prozent) der Befragten einer Infratest dimap-Umfrage, dass sie sich wenig oder gar nicht für die bevorstehende Europawahl interessieren. Bei der letzten Europawahl 2009 hatte die CDU in NRW 38,0 Prozent geholt. Zweitstärkste Kraft war die SPD mit 25,6 Prozent. Die Grünen kamen vor fünf Jahren im bevölkerungsreichsten Bundesland 12,5 Prozent. Die FDP lag bei 12,3 Prozent. Die Linke holte damals 4,6 Prozent.