"Pulli an, Urlaub verschieben" - wie Ratschläge von Politikern auf uns wirken

Stand: 11.10.2022, 13:36 Uhr

In der Energiekrise fordern Politiker vieler Parteien die Bürger zum Verzicht auf. Sind solche Ratschläge fehl am Platz? Wie geht es denn den Menschen damit?

Von Oliver Scheel

Wenn es angesichts der hohen Energiepreise im Winter in vielen Wohnungen kalt wird, dann "sollen wir eben einen Pullover anziehen. Oder vielleicht noch einen zweiten Pullover. Darüber muss man nicht jammern, sondern man muss erkennen: Vieles ist nicht selbstverständlich." 

Diese Worte stammen vom langjährigen Bundestagspräsidenten und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Er spielt darauf an, dass der Staat seine Bürger nicht immer schützen könne.

"Zur Not kannst Du dann eine Urlaubsreise mal nicht machen." Wolfgang Schäuble

Sind solche Äußerungen gegenüber Menschen, für die es nicht lediglich um einen kleinen Verzicht geht, sondern die es sich nicht mehr leisten können, ihre Wohnung zu heizen, herablassend und unfair?

Demokratieforscher: "Kommt darauf an, wer das sagt"

Stephan Weil bei der Stimmabgabe zur Landttagswahl 2022 im Wahllokal in der Kuenhstrasse.

Stephan Weil gilt den Menschen als Kümmerer

"Es kommt ganz darauf an, wer das sagt", glaubt Prof. Ulrich von Alemann von der Universität Düsseldorf. "Ein Mensch, der als Kümmerer bekannt ist, darf solche Aussagen sicherlich tätigen. Ein weniger nahbarer Typ wie Frank-Walter Steinmeier oder Christian Lindner eher nicht. Aber einem Stephan Weil aus Hannover, der sich als biertrinkenden Juristen bezeichnet, wird das abgenommen. Es kommt aber auch darauf an, wie ein Politiker das sagt", so der Politologe und Demokratieforscher.

"Wenn ein Politiker gut gebettet ist wie der Herr Schäuble, kommt das sicherlich nicht gut an. Aber einen Rat muss ein Politker auch geben dürfen", erläutert von Alemann im Gespräch mit dem WDR. Viel komme darauf an, wie es gesagt werde.

"Krise kommt langsam bei den Menschen an"

Immerhin machen sich laut aktuellem Deutschland-Trend derzeit mehr als die Hälfte der Deutschen große (38%) oder sogar sehr große (19%) Sorgen, dass sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.

"Die Krise kommt langsam bei den Menschen an. Es gibt viele diffuse Befürchtungen von der kalten Wohnung bis zum Blackout. Wir sind in einem Zustand, wo man ahnt, dass die wunderbare Zeit vorbei ist, aber das Ausmaß der Krise erschließt sich den Menschen noch nicht", so Stephan Grünewald vom Marktforschungsinstitut Rheingold in einem Interview mit dem RBB.

Vier gesellschaftliche Gruppierungen

Grünewald sieht gesellschaftlich gesehen vier Gruppierungen. "Die erste weiß jetzt schon, dass sie im Herbst die Miete nicht zahlen kann. Die zweite Gruppe hat Abstiegsängste und versucht das durch Mehrarbeit aufzufangen", so der Psychologe. Eine dritte Gruppe sei die bürgerliche Mitte, die nicht existenziell bedroht sei, die aber solidarisch agiere und beim Sparen mithelfe. "Und schließlich gibt es eine vierte wohlsituierte Gruppe, die sich das Sparen sparen will", wie Grünewald es formulierte.

Spannungen ja - Rechtsruck nein?

Es gibt also durchaus große Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Allerdings erwartet Demokratieforscher von Alemann keine Aufstände. "Es wird sicher Demonstrationen geben, aber Ausmaße wie durch die Gelbwesten in Frankreich halte ich hierzulande für unwahrscheinlich."

Einen Rechtsruck wegen der Energiekrise erwartet er auch nicht. "Wir haben in Deutschland eines der stabilsten Parteiensysteme Europas. Und die AfD hat jetzt in Niedersachsen gerade einmal 10 Prozent geholt. Das sieht in Schweden oder Italien ganz anders aus. Die AfD ist alles andere als eine Kümmerer-Partei", sagte von Alemann mit Blick auf das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen. Dennoch sollte die Politik die Sorgen der Bürger ernst nehmen.

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