Nicht mit Krieg gerechnet? Mehr Soldaten verweigern den Dienst

Stand: 29.06.2022, 18:08 Uhr

Die Bundeswehr steht vor großen Herausforderungen. Doch in letzter Zeit wollen vermehrt Soldaten aus dem Dienst entlassen werden. Das steckt dahinter.

Von Christian Wolf

Jahrelang wirkte die Bundeswehr in Öffentlichkeit und Politik ein bisschen wie das ungeliebte Stiefkind einer Familie: Sie gehörte irgendwie dazu, aber so richtig drum kümmern wollten sich die wenigsten. Die Folge waren massive Einsparungen bei Personal und Ausstattung und immer wieder Berichte über eine miese Stimmung in der Truppe.

Doch Russlands aggressives Verhalten mit dem Einmarsch in der Ukraine scheint vielen vor Augen geführt zu haben, dass es vielleicht eine gute Idee wäre, sich mehr um die Bundeswehr zu kümmern. Eine Folge ist das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, mit dem die Ausstattung verbessert werden soll.

Bundeswehr wird gebraucht

Auch personell wird die Bundeswehr künftig stärker gefordert sein. So soll sie sich mit 15.000 Soldatinnen und Soldaten an der sogenannten schnellen Eingreiftruppe der NATO beteiligen. Die Soldatinnen und Soldaten müssen im Ernstfall innerhalb von zehn Tagen im Einsatzgebiet bereitstehen können. In Litauen führt die Bundeswehr bereits einen Kampfverband der NATO an und ist dort zur Sicherung der osteuropäischen Staaten mit rund 1.000 Kräften vor Ort.

Mehr Soldaten verweigern den Kriegsdienst

Nach Jahren des Nischendaseins steht die Truppe nun also im Fokus. Umso überraschender wirkt da eine aktuelle Meldung: Angeblich verweigern seit dem Ukraine-Krieg mehr Soldatinnen und Soldaten den Kriegsdienst und wollen damit aus dem Bundeswehr-Dienst entlassen werden. Was steckt dahinter?

Eine Sprecherin des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Angelegenheiten bestätigte dem WDR entsprechende Zahlen der Zeitung "taz". Demnach wurden bis Anfang Juni 533 Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr waren es 209 Anträge gewesen - weniger als die Hälfte.

Wollen also gerade jetzt, wo die möglichen kriegerischen Gefahren präsenter sind, mehr Soldatinnen und Soldaten raus aus der Bundeswehr? Diese Vermutung liegt zumindest nahe und wird von einem Sprecher des zuständigen Bundesfamilienministeriums indirekt bestätigt. Denn häufig würden die Anträge damit begründet, "dass sie mit einer kriegerischen Auseinandersetzung nicht gerechnet hätten", sagte er der "taz".

Krieg ist realer geworden

Aber muss man nicht damit rechnen, wenn man Soldatin oder Soldat wird? "Es mag sein, dass junge Menschen blauäugig, zum Beispiel von Werbekampagnen geleitet, Interesse an einer Ausbildung bei der Bundeswehr haben", heißt es aus der Presseabteilung der Bundeswehr auf WDR-Anfrage. Doch im Verlauf des Auswahlverfahrens, bis dann der Eid geschworen wird, wüssten die Betroffenen "definitiv", was auf sie zukomme.

Doch für diejenigen, die sich jetzt gegen den Dienst an der Waffe entscheiden, kommt von Seiten der Bundeswehr auch Verständnis. "Sicherlich, jetzt wo das erste Mal ein Krieg in Europa stattfindet, wird das für viele ein ganzes Stück realer. Deswegen ist das eine menschliche Reaktion, da die eigenen Entscheidungen noch einmal zu überdenken", teilt die Presseabteilung mit.

Andreas Gronimus kennt solche Fälle. Er ist Anwalt für Wehrrecht und hat 25 Jahre beim Deutschen Bundeswehrverband gearbeitet. Dem WDR sagte er:

"Es ist bei Menschen immer so, dass Gefahren erst dann ernst genommen werden, wenn sie spürbar näher kommen."

So habe es schon nach 1992 eine "Welle" von Kriegsdienstverweigerungen gegeben, als es mit den ersten Auslandseinsätzen begonnen habe.

Nur geringer Anteil an der Truppe

Sorgen davor, dass die Bundeswehr nun deutlich schrumpft, weil so viele den Dienst verweigern, sind aber nicht nötig. Denn setzt man die bislang 533 Anträge ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Soldatinnen und Soldaten, wird schnell deutlich, dass es nur um einen sehr kleinen Anteil geht. Laut Bundeswehr gibt es 55.797 Berufssoldatinnen und Berufssoldaten sowie 117.944 Soldatinnen und Soldaten auf Zeit.

Und könnte es nicht sogar sein, dass das Interesse an der Bundeswehr in diesen Tagen steigt, wo ihre Bedeutung sichtbarer wird? Tatsächlich habe es kurz nach dem Beginn des Ukraine-Krieges ein "erhöhtes Interesse" an einer Ausbildung gegeben, teilt die Bundeswehr mit. Doch dabei habe es sich nur um eine "kurzzeitige Erhöhung" gehandelt. "Daraus sind keine nennenswerten Anstiege der Rekruten resultiert."

Über dieses Thema berichteten wir am Mittwoch im Radio bei wdr aktuell.