Heute vor 25 Jahren wurde während der Fußballweltmeisterschaft in Frankreich der französische Polizist Daniel Nivel in der Stadt Lens von deutschen Hooligans angegriffen und fast totgeprügelt. Nivel lag wochenlang im Koma, trug irreperable Hirnschäden davon und ist bis heute halbseitig gelähmt.
Der Fan-Betreuer Michael Gabriel hat schon damals in der Koordinationsstelle Fanprojekte gearbeitet und war auch in Lens, als der Angriff passierte. Wir haben mit ihm gesprochen und ihn gefragt, wie sich die Gewaltbereitschaft unter Fußballfans seit dem Vorfall entwickelt hat.
Wie ist Ihnen der Tag des Anschlags auf Daniel Nivel in Erinnerung?
Gabriel: Sehr bedrückend. Ich war damals mit der mobilen Fanbotschaft für die mitreisenden deutschen Fans aktiv. Da haben wir festgestellt, dass sich die Atmosphäre bereits am Abend vorher zugespitzt hat. Es waren, so haben wir geschätzt, rund 600 Hooligans vor Ort, darunter auch viele aus dem rechten Spektrum.
Haben Sie etwas von dem Angriff mitbekommen?
Gabriel: Nicht direkt. Die Informationen kamen nicht so schnell, wie man sie heute bekommen würde. Aber wir haben doch recht schnell gemerkt, dass etwas sehr Schlimmes passiert sein muss. Es war sehr bedrückend, als klar wurde, welche Dimension dieser Überfall hatte.
Daniel Nivel ist von deutschen Hooligans fast totgeprügelt worden, er ist bis heute halbseitig gelähmt, hat irreparable Hirnschäden davongetragen. Welchen Effekt hatte dieser heftige Anschlag auf die deutsche Hooligans-Szene?
Gabriel: Für den überwiegenden Teil der Hooligan-Szene war klar, dass man da zu weit gegangen ist. Die Szene war zu dem Zeitpunkt ohnehin in einer Übergangsphase. Die Hochzeit des Hooliganismus war Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre. Mitte der neunziger Jahre entstand mit den Ultras eine neue Fanbewegung, die insbesondere bei jungen Leuten viel mehr Aufmerksamkeit erregt hat. Für die Ultras stand die Atmosphäre im Stadion - Stichworte Choreografien, Bengalische Feuer - im Mittelpunkt. Sie waren so etwas wie ein Gegenmodell zu den Hooligans.
Im vergangenen Jahr gab es beim Conference-League-Spiel zwischen dem OGC Nizza und dem 1. FC Köln Ausschreitungen von Fans. Es gab mehrere Prozesse gegen Personen aus der Kölner Fanszene. Heute beginnt ein Prozess gegen einen Mann, der offenbar einen Nizza-Fan mit einem Kampftritt niedergestreckt hat. Ein Foto von der Szene belegt das. Ist die Gewaltbereitschaft unter deutschen Hooligans ähnlich hoch wie vor 25 Jahren?
Gabriel: In den 2000er und 2010er Jahren waren die Ultras die dominierende Fankultur in Deutschland, sie sind es bis heute. Gewalt spielte daher in und um die Stadien eine eher untergeordnete Rolle. Es gab zwar immer Hooligans, deren Auseinandersetzungen fanden aber abseits der Stadien statt.
Es gab in der vergangenen Saison neben dem Spiel von Köln in Nizza auch die Spiele von Eintracht Frankfurt in Marseille und von Borussia Dortmund gegen Kopenhagen, bei denen hooligantypische Gewalt wieder sichtbarer geworden ist. Auch die Art der Gewaltausübung hat sich verändert. Forscher sagen, sie hat sich professionalisiert, auch gibt es Überschneidungen in die Ultraszenen. Die neue Generation der Hooligans trainiert in Kampfsportstudios und nimmt keine Substanzen, die die Aufmerksamkeit oder Reaktionsbereitschaft beeinträchtigen. Sie agieren aus einer Kampfsportperspektive sehr professionell. Das war in den Achtzigern und Anfang der neunziger Jahre noch anders, da spielten bei Auswärtsfahrten neben der möglichen Auseinandersetzung noch andere Aspekte eine Rolle, z.B. wurde auch Alkohol getrunken.
Mit der Professionalisierung der Gewalt geht aber auch einher, dass die Auseinandersetzungen intensiver geworden sind und es eine höhere Gefahr von schweren Verletzungen gibt.
Wie hat sich die Fankultur auch durch die Arbeit der Fanprojekte, die sie ja mit der Koordinationsstelle betreuen, verändert?
Gabriel: Die Fankultur hat sich deutlich zum Positiven entwickelt. Daran haben die Fanprojekte einen enormen Anteil, weil sie die kreativen und verantwortungsvollen Kräfte in den Fanszenen unterstützen. Es gibt mittlerweile einen sehr hohen Organisationsgrad in den Fanszenen, Fans sind anerkannte Gesprächspartner. Und es gibt unzählige Fußballfans, die sich für eine positive Fankultur und gegen Rechtsextremismus und Rassismus, Homophobie, Sexismus oder Antisemitismus engagieren.
Auch strukturell hat die Arbeit der Fanprojekte gewirkt. Inzwischen gibt es für Bundesliga-Vereine die Verpflichtung, mindestens drei hauptamtliche Fanbeauftragte zu beschäftigen sowie einen kontinuierlichen Dialog mit den Fans zu führen. Wenn die Beziehung zwischen den Vereinen und Fans funktioniert, dann erhöht sich bei den Fans auch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Das Interview führte Christina Höwelhans.