
"Spricht moderne Urangst an": Kriminologe über tödliche Zug-Schubsereien
Stand: 10.02.2025, 17:01 Uhr
Am Morgen des 20. Juli 2019 wird am Bahnhof in Voerde eine wartende Frau von einem Mann vor den Zug gestoßen und stirbt. Nehmen solche Fälle zu? Wie häufig kommen sie überhaupt vor und wie kann man sie verhindern? Im Interview erklärt Kriminologe Dirk Baier, warum die Antworten auf diese Fragen gar nicht so einfach sind.
Von Tobias Lickes
Tödlicher Angriff am Bahnsteig
Täter und Opfer stehen an diesem Morgen nur ein paar Meter voneinander entfernt auf dem Gleis am Bahnhof Voerde. Die beiden kennen sich nicht. Sie unterhalten sich nicht, streiten nicht, haben offenbar nicht einmal Blickkontakt.
Als ein Regionalexpress in den Bahnhof einfährt, nähert sich der 28-jährige Mann der Frau plötzlich. Unvermittelt stößt er die 34-Jährige mit aller Gewalt in das Gleisbett. Dort wird sie von dem Zug erfasst und stirbt noch vor Ort. Nach der Tat gibt es viele Fragen. Allen voran: Wie kann man einen Menschen töten, den man überhaupt nicht gekannt hat? Dieser Frage geht auch die Folge von WDR Lokalzeit MordOrte nach.
Für Lokalzeit.de hat MordOrte-Host Tobias Lickes außerdem mit dem Kriminologen Dirk Baier über Zahlen, Fakten und mediale Aufmerksamkeit bei Bahn-Schubsern gesprochen. Baier leitet seit 2015 das Institut für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte liegt im Bereich Gewaltforschung.
Warum die Datenlage ein Problem ist
Lokalzeit: Fälle von Bahn-Schubsern wie der aus Voerde erfahren immer eine große mediale Aufmerksamkeit. Haben diese Fälle in den vergangenen Jahren zugenommen?
Dirk Baier: Es gibt bislang wenig kriminologische Erkenntnisse zu diesen Bahn-Schubsern. Subjektiv würde ich ebenfalls sagen: Man liest häufiger davon. Das muss aber nicht heißen, dass die Anzahl der Delikte auch tatsächlich steigt. Die Bundespolizei ist für die Sicherheit der Bahnstrecken und Bahnhöfe verantwortlich und veröffentlicht Daten. Die letzten Zahlen stammen allerdings aus dem Jahr 2021. Da gab es in einem Jahr 49 solcher Fälle. Im Corona-Jahr 2020 waren es halb so viele. Das ist in absoluten Zahlen also eine Steigung. Schauen wir aber auf ganz Deutschland, ist das insgesamt noch immer eine sehr niedrige Zahl.

Prof. Dr. Dirk Baier, Polizeiwissenschaftler an der Universität Zürich
Lokalzeit: Warum gibt es keine aktuellen, bundesweiten Zahlen, die man einfach nachschauen kann?
Baier: Bisher wird das Stoßen eines Menschen ins Gleisbett nicht als eigenes Delikt klassifiziert. Deswegen fehlen in den entsprechenden Statistiken die Schlagworte dazu. Das macht es im Nachhinein sehr kompliziert, diese spezifischen Fälle aus der Gesamtheit der Daten zu rekonstruieren. Die Bundespolizei hat ja Zahlen zum Gleis-Schubsen herausgegeben, da gibt es für mich aber noch ein kleines Fragezeichen hinsichtlich der Erfassung. Eben weil es bisher keine klare Entscheidung gibt, diese Taten als eigenes Delikt auszuweisen.
Der Eindruck kann täuschen
Lokalzeit: Fälle wie der in Voerde gehen sofort viral und sind tagelang in den Medien. Führt diese ausführliche Berichterstattung dazu, dass Menschen die Zahl solcher Vorfälle falsch einordnen?
Baier: Der entscheidende Punkt bei diesem Delikt ist, dass sich im Prinzip fast jeder Mensch in Deutschland gut in diese Situation hineinversetzen kann. Ich stehe an einem Bahngleis, warte auf den Zug - und völlig aus dem Nichts heraus stößt mich jemand auf die Gleise. Ich glaube, daran hat jeder Pendler und jeder Reisende am Bahnsteig schon einmal gedacht. Es spricht eine moderne Urangst von uns an. Und darauf reagieren natürlich auch die Medien. Das führt zu dem Eindruck, das passiere permanent.
- Zum Beitrag: Gewalt auf der Straße: Wie sieht die Zukunft aus?
Lokalzeit: Haben Sie Verständnis dafür, dass es bundesweit bislang keine belastbaren Zahlen zu Gleis-Schubsern gibt?
Baier: Aus wissenschaftlicher Sicht bin ich immer an möglichst detaillierten, differenzierten Daten interessiert. Auch vor dem Hintergrund, der Bevölkerung schnell und sachlich Informationen zu bestimmten Delikten geben zu können. Außerdem brauchen wir die Informationen, um daraus Präventionsmaßnahmen entwickeln zu können. Ich verstehe aber auch, dass die Polizei nicht jede Information per Knopfdruck generieren kann.
Sind Menschen mit Migrationshintergrund häufiger Bahn-Schubser?
Lokalzeit: Immer wieder wird der Verdacht geäußert, dass Menschen mit Migrationshintergrund überproportional an Gleis-Schubsereien beteiligt wären. Stimmt das?
Baier: Wir haben für dieses Delikt wie erwähnt keine belastbaren Zahlen, mit denen sich diese Frage eindeutig beantworten lassen würde. Aber wenn ich eine Prognose abgeben müsste, würde ich der These zustimmen. Ich glaube, wir würden bei diesem spezifischen Delikt ein ähnliches Bild sehen, was dem allgemeinen Bild im Bereich Gewaltkriminalität entspricht. Dort sind Personen mit Migrationshintergrund überrepräsentiert. Das ist kein Geheimnis. Die Zahlen zur Gewaltkriminalität kann jeder einsehen. Die entscheidende Frage ist: Was machen wir mit diesem Wissen? Wir sollten nicht einer Gruppe kollektiv die Schuld zuweisen. Wir sollten versuchen, das zu erklären, richtig zu analysieren. Darin liegt der Schlüssel, um an die Ursachen zu kommen und dann auch Präventionsmaßnahmen umzusetzen.
Lokalzeit: Welche Anhaltspunkte gibt es denn bei der Ursachenforschung?
Baier: Personen mit Migrationshintergrund haben meist eine schlechtere soziale Lage. Sie sind häufig ärmer, kommen öfter aus Familien, in denen Gewalt ein Mittel der Kommunikation ist. Es kann ein Problem sein, wenn zugewanderte Menschen mit teilweise sehr schlimmen Erfahrungen in ihrem Heimatland oder auf ihrer Flucht hier nicht genügend Hilfe erhalten. Wir könnten also versuchen, die psychische Unterstützung für Asylbewerber zu verbessern. Das könnte uns dabei helfen, die Fälle von Gewaltkriminalität in dieser Gruppe zu reduzieren. Und damit vermutlich auch die Fälle der Bahn-Schubsereien.