Ein Mordfall ohne Leiche
Es ist kalt und genauso dunkel wie damals. Bascha Backhaus ist zurück am Tatort. Die 17-jährige Mindenerin schlägt fröstelnd ihren Mantel nach oben und streicht sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Unter dem schwachen Licht einer Straßenlaterne bleibt sie stehen. Über ihr ragt der schlohweiße Möllberger Kirchturm wie ein Gespenst in den pechschwarzen Nachthimmel. Vor 96 Jahren muss es hier ganz anders ausgesehen haben. Was ist damals wirklich passiert? Und was hat ihr Ururgroßvater damit zu tun? Langsam schaut Backhaus sich um. Das hier ist der Ort, an dem alles begann.
Möllbergen am 11. Mai 1928. Es ist der Schicksalstag des 1500-Einwohner-Nests im Großen Weserbogen. Für einige Augenblicke steht der kleine Ort, der heute zu Porta Westfalica gehört, im Licht der großdeutschen Öffentlichkeit. Möllbergen wird für kurze Zeit zum Symbol für ein Sensationsverbrechen. Ein Mordfall ohne Leiche. Zeitungen, das Leitmedium der Zeit, berichten aus dem Rheinland, Schlesien und Ostpreußen über den Kriminal-Skandal in der ostwestfälischen Provinz. Und die Angeklagten helfen eifrig mit. Ein Justizdrama.
Der verschwundene Waisenjunge
10 Uhr abends. In Möllbergen ist es an diesem Dienstagabend im Jahr 1928 bereits stockdunkel. Auf dem Bauernhof der Familie Meyer, genau im Zentrum des kleinen Orts, bricht ein Feuer aus. Die Besitzer, August und Luise Meyer, ihre zwei Söhne und der 15-jährige Waisenjunge Karl Rumschikowski, der als Pflegekind auf dem Hof lebt, können sich gerade noch ins Freie retten. Von draußen sehen sie, wie ihr Bauernhof bis auf die Grundmauern abbrennt.
Bereits wenige Tage später präsentiert die Polizei die angeblichen Brandstifter - und nimmt das Ehepaar Meyer vorläufig fest. Die beiden sollen, so glauben die Kriminalbeamten, ihren eigenen Hof angezündet haben und präsentieren scheinbar unwiderlegbare Beweise. Die Meyers sind mit 12.500 D-Mark schwer verschuldet, die Versicherungspolice für den Hof beträgt hingegen 14.000 D-Mark. Ein Betrugsfall also. Nur eine Frage können die Polizisten nicht beantworten. Wo ist der Waisenjunge Karl Rumschikowski hin?
Der Möllberger Brandfall landet vor dem Bielefelder Schwurgericht. Über 50 Zeugenaussagen machen die Beweisaufnahme zu einer echten Mammutaufgabe. Auch, weil sich die Angeklagten in aller Öffentlichkeit gegenseitig ans Messer liefern. Die Ehefrau des Hauptangeklagten, Luise Meyer, verdächtigt ihren eigenen Sohn Karl, den elterlichen Hof in Brand gesteckt zu haben. Der wehrt sich und behauptet: Seine Mutter habe mehrfach angedroht, ihn "halbtot zu schlagen, dann aufzuhängen und in die Weser zu werfen".
Die Presse druckt einen Artikel nach dem anderen und veröffentlicht immer weitere peinliche Details aus dem "Möllberger Sensationsprozess". Ein Zeuge behauptet, es sei im Dorf allgemein bekannt gewesen, dass auf dem Bauernhof bald ein Brand ausbrechen werde. Ein anderer sagt aus, mit Luise Meyer sexuell verkehrt zu haben. Ein zu pikanter Vorwurf für die Ohren der zeitgenössischen Öffentlichkeit. Der Prozess wird vorübergehend ohne Zuschauer fortgesetzt. Sohn Karl kommentiert unterkühlt: "Wenn meine Mutter unlautere Beziehungen hat, ist sie keine Mutter mehr für mich."
Währenddessen fahndet die Polizei mit Hochdruck nach dem verschwundenen Waisenjungen Karl Rumschikowski. Der damals 15-Jährige, geboren 1912 in der heute zu Polen gehörenden Hafenstadt Danzig, ist kurz nach dem Brand verschwunden. Die Polizei glaubt, die Meyers hätten ihn für den Versicherungsbetrug aus dem Weg geschafft. Die Beamten suchen in den ausgebrannten Trümmern und der Jauchegrube des Bauernhofs nach seinen Knochenüberresten, graben den Dorffriedhof um. Umsonst. Später taucht sogar der Göttinger Hellseher "Lo Rhama" am Tatort auf. Im Trancezustand sagt er aus, Rumschikowski sei vermutlich in die französische Fremdenlegion eingetreten. Beweise hat er keine. Der Waisenjunge bleibt verschwunden.
Der Zeuge ohne Gesicht
Zurück im 21. Jahrhundert. Zurück zu Bascha Backhaus. Sie hat bei ihren Recherchen nichts dem Zufall überlassen. Hunderte Zeitungsseiten hat sie in den letzten Monaten gelesen und in gelb, rot und neongrün eingekreist und unterstrichen. Backhaus ist keine gewöhnliche 17-Jährige. Sie hat das selbstbewusste Auftreten einer angehenden Psychologin und den nüchternen Duktus einer Polizeipressesprecherin.
Backhaus spricht nicht von ihrem "Ururopa Heinrich", wenn sie über den Mann und sein Schicksal redet, das sie seit Monaten aufzuklären versucht. Für sie ist dieser Mann bloß der "Zeuge Backhaus", ganz so, als sei seine Geschichte nicht auch die ihre, als sei dieser Mann, von dem kein einziges Foto überliefert ist, bloß ein anonymer Fremder ohne Gesicht. Doch das stimmt nicht. Bascha Backhaus weiß mehr über ihren Ururopa, als irgendjemand sonst: Sie hält ihn für den Täter von damals.
Heinrich Backhaus. Immer wieder taucht sein Name in den Prozessberichten auf. Als Zeuge sagt er vor Gericht gegen das Ehepaar Meyer aus, verdächtigt sie des Mordes am Waisenjungen Rumschikowski. Auch zu Hause in Möllbergen heizt er die Stimmung gegen die Meyers immer weiter an. Die Bevölkerung greift schließlich zur Lynchjustiz. Mit Ziegelsteinen bewaffnet, macht eine Gruppe junger Männer Jagd auf das Ehepaar Meyer, das schwer verletzt wird. Heinrich Backhaus gilt als Anstifter, aber nie als Tatverdächtiger.
Sehr zur Überraschung seiner Ururenkelin. Schließlich sitzt er vor der Tatnacht für zwei Jahre und vier Monate im Zuchthaus. Der Grund: Brandstiftung. Was die Polizei allerdings nicht weiß - Backhaus hat auch ein Motiv. Seine Tochter habe nämlich eine Beziehung mit dem Meyer-Sohn Karl gehabt, glaubt Ururenkelin Bascha heute: "Aber Backhaus war dagegen. Das war für ihn eine grauenhafte Idee. Wegen des sozialen Status der Meyers. Und auch, weil er sie persönlich nicht mochte."
Der lebendige Tote
Die Aufklärung der mysteriösen Möllberger Brandnacht entwickelt sich zu einem Justizrätsel. Die Meyers werden zunächst aus Mangel an Beweisen freigesprochen und erst 1935 in einem Wiederaufnahmeverfahren doch wegen Brandstiftung verurteilt. Der Grund: Ein von den Nationalsozialisten, die mittlerweile die Macht in Deutschland übernommen haben, erpresstes Geständnis des Hauptangeklagten August Meyer. Später wird es jedoch widerrufen.
Der Mordfall Rumschikowski bleibt unaufgeklärt, bis der Waisenjunge im Jahr 1937, neun Jahre nach der Brandnacht, plötzlich wieder auftaucht. Bascha entdeckt: Rumschikowski lebt unter falschem Namen im Nachbarort. Von seiner Fahndung will er nichts gewusst haben.
- Warum legen Brandstifter Feuer? Psychologe aus Bielefeld gibt Antworten
Heinrich Backhaus, Baschas Ururgroßvater, ist der Geschichte nach also kein Mörder. Er stirbt als freier Mann. Doch auf dem Sterbebett sagt er schließlich aus, der eigentliche Möllberger Brandstifter gewesen zu sein. So überliefert es jedenfalls die Familienlegende.
Der Ruf der Familie Meyer ist allerdings ruiniert. Sie verarmt, flüchtet aus Möllbergen und verändert ihren Nachnamen. Eine historische Ungerechtigkeit, findet Bascha Backhaus heute. Sie hat ihren Ururgroßvater Heinrich nie kennengelernt. Er lebt für sie nur durch die Geschichten anderer, eine ferne Erinnerung, der sie nie ein Gesicht geben können wird. Und dennoch fühlt sie sich schuldig für das, was ihr Vorfahre anderen Menschen angetan haben könnte: "Ich weiß jetzt, was passiert ist. Und es tut mir schrecklich leid, dass das nie aufgearbeitet worden ist. Aber ich kann nichts mehr tun."
Über dieses Thema haben wir auch am 03.12.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.