Die Tat und die Folgen
Eine Gruppe Jugendlicher - sie nennt sich selbst nach einem Rap-Song "Gucci-Gang" - hält sich zufällig im Flur des Hauses auf, in dem die Polats wohnen. Ali Polat schickt sie weg. Vor der Tür wartete etwas später die "Gucci Gang", eine Gruppe von etwa zehn Jugendlichen. Zwei 14 Jahre alte Jungs gehen auf ihn los. Sie traktieren den Senior mit Schlägen gegen den Kopf. Einer der beiden springt ihm mit gestrecktem Bein in den Rücken. Polat knallt mit dem Kopf gegen die Wand, geht zu Boden. Beide treten mehrfach zu.
Vida Polat ist in der Nähe, als das passiert. Und ist es irgendwie bis heute. "Die letzten Worte meines Mannes waren: Die haben mich an den Kopf geschlagen. Dann ist er zusammengebrochen. Warum das alles passiert ist? Ich will nicht mehr darüber sprechen." Sie tut es doch, zittert und weint. Sie ist blass, wirkt matt und gebrochen.
Ihr Mann kann nach der Tat nicht mehr sprechen, ist halbseitig gelähmt und kommt erst nach langem Krankenhaus-Aufenthalt als schwerer Dauer-Pflegefall nach Hause. Prognose: Kaum Aussicht auf Besserung. Seine leibliche Familie habe viereinhalb Jahre auf ein Wunder gehofft, sie selbst nicht, quasi aus professioneller Sicht.
Der Prozess
Nach einem Vierteljahr beginnt der Prozess gegen die beiden gerade strafmündig gewordenen Jugendlichen. Eine Erklärung zum Thema Strafmündigkeit gibt es übrigens hier. Nach den Vorschriften des Jugendstrafrechts komplett hinter verschlossenen Türen. Vida Polat ist dabei. Aber nicht als Nebenklägerin. Das ist erst ab schwerer Körperverletzung möglich. Im Prozess aber lautet der Vorwurf auf die strafrechtlich niedriger eingestufte gefährliche Körperverletzung. Bei der geht es hauptsächlich darum, wie eine Tat ausgeführt wurde, mit einem Messer oder einem Hammer beispielsweise. Die schwere Körperverletzung aber nimmt vor allem die Folgen der Tat für das Opfer ins Visier, hätte also in diesem Fall womöglich zu einer höheren Strafe für die beiden Täter führen können.
Ein wichtiges Detail bleibt in genau diesem Zusammenhang fraglich. Ali Polat erleidet unbestritten eine Hirnstammblutung, aber: Ist sie tatsächlich eine Folge der Tat oder dadurch ausgelöst? Das rechtsmedizinische Gutachten, dem die Richter folgen, verneint das.
Schon für Medizinstudenten im ersten Semester sei die Sache doch klar, meint Vida Polat. "Mit einer Hirnstammblutung kann man nicht mehr gerade gehen. Da ist alles vorbei." Sie sieht sich im Prozess den beiden Angeklagten gegenüber. "Der eine war schüchtern. Der andere hat mir direkt die Augen geschaut. In seinem Blick konnte man sehen, was er denkt: Was kannst du mir schon tun? Ich bin minderjährig." Ähnlich sollen sich beide auch bei ihren Vernehmungen bei der Polizei verhalten haben.
Urteil und Vergebung
"Eiskalt und respektlos", heißt es damals über die Jugendlichen, die schon vor der Tat in die Kategorie Intensivtäter fielen. Beide haben eine annähernd dreistellige Zahl an Eintragungen zu ihrer Person. Eine Bestrafung für unter 14-Jährige ist nicht möglich.
Das Urteil wird im Dezember 2019 gesprochen: Zwei Jahre und vier Monate Jugendstrafe. Die Frage nach einem möglichen Verzeihen beantwortet Vida Polat nur zögerlich. "Da muss der liebe Gott verzeihen. Ich spüre keinen Hass. Ich hasse keinen Menschen. Ich denke, Kinder müssen in ihrer Erziehung lernen, dass Gewalt keine gute Lösung ist. Was passiert ist, ist passiert. Das können wir nicht zurückdrehen. Und mit Hass will ich nicht leben." Sie weint.
Jahre der Selbstaufgabe
Viereinhalb Jahre lebt sie nach der Tat nur für ihren Mann. Er braucht 24 Stunden am Tag intensive Pflege und Aufmerksamkeit. Pflegedienste und mit in der Wohnung lebende Pflegerinnen kommen und gehen. Nur wenn sie arbeiten geht, ist Vida Polat nicht da. Als Krankenschwester habe sie anfangs gedacht, sie bekomme das hin. "Es gab Tage, an denen ich gemerkt habe, wie mich das fertig macht." Sie habe dann niemanden sehen wollen und sei depressiv geworden. "Es war eine ziemlich schwierige Zeit. Aber ich habe das für meinen Mann gemacht", sagt sie unter Tränen.
Er erlitt als Pflegefall immer wieder gesundheitliche Rückschläge, unter anderem Organentzündungen. Im Kopf ist er voll da. "Tagsüber war er klar. Er durfte selbst entscheiden, wenn er zum Beispiel keine Physiotherapie wollte. Aber zum Jahresbeginn 2023 hat er aufgegeben."
Ende der Qual?
Ali Polat stirbt ein halbes Jahr später, Mitte 2023. "Ich spüre auch eine Erleichterung, dass er nicht mehr mit der Qual leben muss. Das hat er sich nicht so gewünscht. Er wollte nicht nur von Geräten am Leben gehalten werden."
Vida Polat möchte bald reisen. Zunächst in ihr Geburtsland Litauen. Dort lebt ihre demente Mutter, die von einer von Polats Schwestern gepflegt wird. Als ihr Mann noch lebte, habe sie immer nur kurz bleiben können.
Über dieses Thema haben wir auch am 14.11.2023 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr.