Mehrer Polizisten laufen mit dem Rücken zur Kamera, gekleidet mit Schutzwesten und Sturmhauben. Im Hintergrund ist unscharf ein Polzeiwagen zu sehen.

Irrtümlicher SEK-Einsatz in Bielefeld: "Das ist die Schwachstelle im gesamten Prozess"

Bielefeld | Verbrechen

Stand: 17.04.2025, 16:36 Uhr

Spezialeinsatzkommandos, kurz SEK. Das sind extra für diesen Zweck ausgebildete Beamte, die schwer bewaffnet Wohnungen von Tatverdächtigen stürmen. Doch was ist, wenn sich ein SEK dabei in der Wohnung vertut und die Wohnung der falschen Person stürmt? Genau das ist im Juli 2023 in Bielefeld passiert.

Von Hamzi Ismail

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Irrtum in Bielefeld

Auf der Suche nach einem straffälligen Mitglied der Rockergruppe Hells Angels bricht ein Spezialeinsatzkommando (SEK) im Jahr 2023 die falsche Wohnungstür auf. Die Spezialkräfte verletzen in dieser Nacht in Bielefeld den 35-jährigen Neurowissenschaftler Amir Jahanian schwer. Seine 33-jährige Frau Hadis Imani, ebenfalls Neurowissenschaftlerin, erleidet einen großen Schock.

Die Ermittler gingen davon aus, dass der Gesuchte Waffen besitzen könnte. Bei der Überwältigung und Festnahme des Mannes ging das SEK hart und aggressiv vor, berichtet das Paar später und erstattet Anzeige gegen die Polizei. Bis heute leiden die beiden iranisch-stämmigen Wissenschaftler, die für ihre Forschungsarbeiten für einige Jahre in Deutschland sind, an den Folgen des Einsatzes. Zu den Symptomen gehören unter anderem Depressionen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Zudem mussten sie aus ihrer beschädigten Wohnung ausziehen. Mehr zu den Folgen des Einsatzes und wie es Jahanian und Imani heute geht, liest du hier.

Die eigentlich gesuchte Person aus dem Rocker-Milieu, so stellt sich später heraus, wohnte zwei Etagen über dem Ehepaar und war zum Zeitpunkt des SEK-Einsatzes bereits auf der Flucht.

WDR-Autor Hamzi Ismail hat sich für unser Doku-Format "Lokalzeit MordOrte" näher mit dem Fall beschäftigt.

Für Lokalzeit.de hat er mit dem Polizeiwissenschaftler Antonio Vera von der Hochschule der Polizei in Münster über die Arbeit von SEKs und die Häufigkeit falscher Einsätze gesprochen.

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Wie das SEK vorgeht

Lokalzeit: Warum ist es wichtig, dass ein SEK bei seinen Einsätzen so schwer bewaffnet ist und nicht zimperlich vorgeht?

Antonio Vera: SEK-Einsätze finden ja normalerweise nicht statt, wenn es um die Festnahme eines Ladendiebs geht, sondern nur in besonderen Gefahrensituationen. Also bei Personen, von denen Gefahr ausgeht, mit einem hohen Gewaltpotenzial, bei dem etwa Schusswaffen befürchtet werden. Da ist es notwendig, dass man durchaus rustikal vorgeht. Das ist vor allem für den Selbstschutz der Beamten wichtig.

Antonio Vera sitzt in einem Seminarraum an einem Tisch. Er gestikuliert.

Universitätsprofessor Antonio Vera im Interview

Lokalzeit: Wie bereiten sich die Einsatzkräfte vor?

Vera: Es findet vorab eine sehr genaue Lagebesprechung statt. Über Details kann ich nicht sprechen, weil es dabei um Einsatztaktiken geht, die nicht in die Öffentlichkeit gehören. Aber weil es eben so eine gefährliche Situation für alle Beteiligten ist, kann eine gute Vorbereitung Leben retten.

Lokalzeit: Passiert es häufiger, dass sich die Einsatzkräfte in der Wohnung irren oder die falsche Person überwältigen?

Vera: Nein, das passiert nicht allzu häufig, vielleicht ein bis zwei Mal pro Jahr in ganz Deutschland. Wenn Fehler passieren, sind es meist genau solche Verwechslungen einer Wohnung. Das ist die Schwachstelle im gesamten Prozess. Es ist herausfordernd für das SEK an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit, die richtige Person festzunehmen. 

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Warum das SEK die falsche Wohnung stürmen kann

Lokalzeit: Wird den Beamten im Vorfeld nicht mitgeteilt, in welchem Stockwerk und in welcher Wohnung die gesuchte Person wohnt?

Vera: Doch natürlich, aber auch bei Vorbereitungen können ganz vereinzelt mal Fehler passieren. Grund können auch ungenaue Zeugenaussagen sein, deren Hinweise zu Personen und deren Wohnungen doch nicht stimmen. Die Adresse einer gesuchten Person gibt nicht automatisch an, auf welcher Etage und Wohnung sie wohnt, insbesondere auch dann, wenn ein Klingelschild fehlt. Vor allem in Mehrfamilienhäusern ist das eine Fehlerquelle.

Lokalzeit: Wie kann es passieren, dass in der falschen Wohnung auch noch die falsche Person überwältigt wird? Namen und Aussehen der gesuchten Person ist den SEK-Beamten ja bekannt.

Vera: Diese Einsätze laufen innerhalb weniger Sekunden ab. Es sind häufig sehr unübersichtliche Situationen. Das SEK muss zudem damit rechnen, dass die betreffende Person nicht alleine ist. Wenn man also in die Wohnung eindringt und man trifft auf jemandem, der nicht die gesuchte Person ist, bedeutet das nicht automatisch, dass man in der falschen Wohnung ist. In diesem Fall könnte es auch ein Rockerkollege des Gesuchten sein oder eine andere ihm bekannte Person. Daher sind SEK-Einsätze immer mit Unsicherheit behaftet.

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Zu viel Gewalt?

Lokalzeit: Das Ehepaar aus Bielefeld kritisiert das harte Vorgehen der SEK-Beamten gegen Amir Jahanian. Die Beamten wiederum sagen, es sei nur ein Schlag gewesen. Wie erklären Sie sich diese unterschiedlichen Standpunkte?

Vera: Ich habe die Bilder von den Verletzungen gesehen, es sieht so aus, als ob er hart ins Gesicht geschlagen worden ist. Und wenn SEK-Beamte zuschlagen, dann kann das schon ziemlich übel aussehen. Sie sind ja genau dafür ausgebildet, Menschen im Notfall außer Gefecht zu setzen, um sich selbst zu schützen bei den Einsätzen. Das Opfer soll laut eigenen Angaben seine Hände gehoben haben, die Beamten werteten diese Armbewegung in der hektischen Situation möglicherweise als Gegenwehr. Wir wissen es nicht genau, da wir nicht dabei waren. Das muss die juristische Aufarbeitung zeigen.

Lokalzeit: Aber Sie räumen nach den Bildern zu urteilen auch ein, dass zu viel Gewalt angewendet wurde?

Vera: Den Bildern nach musste das Opfer etwas zu viel Gewalt einstecken. Da kann man aus Sicht der Polizei nur um Verzeihung bitten. Das hätte so nicht passieren dürfen. Die Bielefelder Polizeipräsidentin hat genau das nach dem Vorfall ja auch getan und sich persönlich bei dem Paar entschuldigt.

Lokalzeit: Um brenzlige Situationen wie diese hinterher dokumentieren zu können, tragen Polizisten zum Teil Bodycams. Doch bei diesem Einsatz sollen die Bodycams der SEK-Beamten aus gewesen sein. Wie ist das, müssen die Bodycams während eines Einsatzes eingeschaltet sein oder wie ordnen Sie das ein, dass es in diesem Fall nicht so war?

Vera: Tatsächlich sind auch Spezialeinsatzkommandos mit Bodycams ausgestattet, aber es ist nicht verpflichtend, sie bei jedem Einsatz zu tragen und sie anzumachen. Es liegt im Ermessen des jeweiligen Beamten und wird immer nach Einzelfall entschieden.