Ein blau-schwarzes Banner mit der Aufschrift: Kein Vergeben, kein Vergessen. In Gedenken an Thomas "Schmuddel" Schulz

Skinhead ersticht Punk: Ein Urteil, das Dortmund bis heute beschäftigt

Dortmund | Verbrechen

Stand: 17.03.2025, 17:01 Uhr

Ein Skinhead ersticht einen Punk - fast 20 Jahre gibt es Streit um das Motiv. Denn obwohl der Täter ein bekennender Neonazi ist, geht das Gericht nicht von einer politisch motivierten Tat aus. Ein Urteil, das die Menschen in Dortmund bis heute beschäftigt.

Von Ida Haltaufderheide

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2005: Messerangriff im U-Bahnhof

Am 28. März 2005 ist Ostermontag, deshalb warten etwas weniger Menschen als sonst zwischen den grün gekachelten Wänden der Haltestelle Kampstraße auf ihre U-Bahnen. Da werden zwischen dem üblichen Stimmengewirr, Rascheln und Kreischen der abfahrenden Bahnen, Rufe laut: "Zecke!", brüllt ein Jugendlicher. "Scheiß Nazi!", schreit ein anderer junger Mann über die Rolltreppe hinweg zurück.

Bis zu diesem Punkt ist die Szene für Dortmund nicht ungewöhnlich: Auf der einen Seite der Rolltreppe ist ein Neonazi-Skinhead mit seiner Freundin auf dem Heimweg vom Fußballspiel. Auf der anderen Seite fährt eine Gruppe Punks die Rolltreppe hoch. Sie wollen auf ein Konzert. Alle haben Alkohol getrunken. Es wird gepöbelt.

Ein mit Graffiti besprühtes Backsteingebäude, auf dem in weißer Schrift die Worte "Nazi" und "Kiez!" und ein Reichsflagge gesprüht sind.

Der Dortmunder "Nazikiez" ist ein beliebter Treffpunkt für Rechtsextremisten

Doch am oberen Ende der Rolltreppe löst sich einer der Punks aus der Gruppe. Er fährt wieder runter und folgt dem Neonazi und seiner Freundin. Die Männer streiten. Sie schaukeln sich hoch. Sie drohen - und dann zieht der jüngere plötzlich ein Messer aus dem Ärmel seiner Bomberjacke und sticht zu.

Ein Stich trifft den Punk mitten ins Herz. Er sackt zusammen. Sein Angreifer flieht. Der Punk namens Thomas Schulz stirbt noch am selben Abend im Krankenhaus. Er wird nur 31 Jahre alt. Den ganzen Fall zeigen wir bei WDR Lokalzeit MordOrte.

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Gedenken, Protest, Propaganda

Wer heute in Dortmund über Thomas Schulz spricht, meint meist auch rechte Gewalt im Allgemeinen und die späte Aufarbeitung dieser Taten. Aber wie wurde der Punk mit dem Spitznamen "Schmuddel" zu so einer wichtigen Symbolfigur?

Der Blick geht wieder zurück: In Dortmund machen zu dieser Zeit immer wieder rechte Gewalttaten Schlagzeilen. Im Juni 2000 erschießt ein Rechtsextremist drei Polizisten bei einer Verkehrskontrolle. 2005 gründet sich der "Nationale Widerstand Dortmund", eine Neonazi-Kameradschaft. Im Frühjahr 2006 überfallen Neonazis ein Punk-Konzert in der linken Szenekneipe HirschQ. Drei Konzertbesucher werden verletzt.

Gemeinsam gegen Rechts - Trauernde demonstrieren nach "Schmuddels" Tod

00:17 Min. Verfügbar bis 17.03.2027

Zwischen 2005 und 2010 verzeichnet der Verfassungsschutz 1080 Taten mit rechtsextremem Hintergrund in Dortmund, so viele wie in keiner anderen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Der Tod von Thomas Schulz zählt erstmal nicht dazu. Denn obwohl der Täter ein bekennender Neonazi ist und er auch vor Gericht keinen Hehl daraus macht, dass er Punks verachtet, wird die Tat nicht als politisch motiviert eingestuft.

Das Gericht geht von einer spontanen Tat aus, für die die rechte Gesinnung des Täters "nicht von tragender Bedeutung" gewesen sei. Der damals 17-Jährige wird wegen Todschlags zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren verurteilt.

Ein Urteil, das viele Menschen in Dortmund nicht akzeptieren wollen. Während die Tat in der rechten Szene gefeiert wird und Neonazis in der Stadt Plakate mit Aufschriften wie "Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide" kleben, gehen tausende Menschen bei Gedenkdemos für Thomas Schulz auf die Straße. Sie fordern ein härteres Durchgreifen von Polizei und Justiz.

Konflikte zwischen politisch linken und rechten Gruppen und Angriffe auf Migranten werden in der öffentlichen Wahrnehmung mehr und mehr als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen.

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"Nazikiez" Dortmund

Lange Zeit konnte die Dortmunder Neonazi-Szene wachsen, ohne dass die Tragweite dieser Entwicklung erkannt wurde. Der Dortmunder Journalist und Politikwissenschaftler Alexander Völkel beschreibt die Stadt als "das große Feldlabor für Neonazi-Aktivitäten".

In Dortmund habe die Szene einen Raum gefunden, um sich auszuprobieren, Grenzen auszutesten und neue Strategien zu erproben. Die vorhandenen Strukturen hätten ihnen dabei geholfen.

Journalist Alexander Völkel über die Stimmung in Dortmund nach dem Mord

00:18 Min. Verfügbar bis 17.03.2027

"Fußball und Rechtsextremismus ist ein gut funktionierendes Thema gewesen", sagt Völkel. Aus der gewaltbereiten Hooligan-Szene sei ab den 80er-Jahren die "Borussenfront" entstanden. Viele Mitglieder hatten Kontakte in die rechtsextreme Szene und wurden immer wieder wegen Körperverletzung und Vandalismus verurteilt.

Die Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum für ihre Anhänger und Konflikte in der Sozialstruktur durch Migration und hohe Arbeitslosigkeit seien darüber hinaus der Nährboden für die Neonazi-Szene in Dortmund gewesen, so Völkel.

In Dortmund-Dorstfeld beanspruchen Neonazis in den 2000er-Jahren ganze Straßenzüge für sich. Hauswände werden mit Graffiti verziert, die den Bereich als "Nazikiez" ausweisen. Neonazis patrouillieren als Bürgerwehren in der Stadt. Journalisten, Politiker und Menschen, die sich gegen Rechts positionieren, werden verfolgt, bedrängt und bedroht - sogar in ihren eigenen Wohnhäusern.

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NSU-Opfer in Dortmund

Erst mit der Aufklärung der NSU-Morde im Jahr 2011 wächst auch das Bewusstsein für die Neonazi-Problematik in Dortmund. Eins der Opfer der Zwickauer Terrorgruppe um Beate Zschäpe ist der Dortmunder Mehmet Kubaşık.

Er wird im April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Vom rechten Terrornetzwerk "Nationalsozialistischer Untergrund" - kurz NSU, wie sich erst Jahre später herausstellt. Bis dahin werden das Opfer und seine Familie verdächtigt, in kriminelle Geschäfte verwickelt gewesen zu sein.

Heute steht in Dortmund ein Denkmal für die zehn Todesopfer des NSU. Nach Mehmet Kubaşık wurde ein Platz in der Nordstadt benannt.

Ein hellgrauer, mit bunten Blumen umrandeter Gedenkstein mit der Aufschrift: In gedenken an Mehmet Kubaşık. Ermordet am  4. April 2006 durch rechtsextreme Gewalttäter.

Mehmet Kubaşık ist nur eines von vielen Opfern rechtsextremer Gewalttäter

Auch im Fall von Thomas Schulz fordern verschiedene Initiativen bis heute immer wieder, dass die Einschätzung des Gerichts, dass das Motiv nicht rechtsextrem war, noch einmal geprüft werden müsse. Das NRW-Innenministerium sah sich diesen und elf andere Fälle im Jahr 2015 tatsächlich noch einmal an. Eine Neubeurteilung fand aber nicht statt.

Erst als das NRW-Innenministerium 2020 das Projekt "ToreG NRW" im Landeskriminalamt ins Leben ruft, kommt noch Bewegung in den Fall. Die Abkürzung "ToreG" steht für "Todesopfer rechter Gewalt". Und genau darauf sollen der Fall Thomas Schulz und 29 weitere erneut überprüft werden: Könnte es sich doch um rechte Gewalt handeln?

2024 präsentiert die Arbeitsgruppe ihre Ergebnisse: Vier Fälle werden nun doch als politisch motiviert eingestuft. Darunter auch der Messerangriff auf Thomas Schulz.

Über dieses Thema berichten wir auch am 28.03.2025 im WDR Fernsehen: Lokalzeit aus Dortmund, 19:30 Uhr.