Das Schweigen der Rinder
Ein leises Muhen weht durch den offenen Stall. Oben auf dem Berg, über den Dächern von Altenheerse. Hat er sich das Geräusch nur eingebildet? Hat er nicht. Einem der Kälber, vielleicht ein paar Wochen alt, geht es nicht gut. Moritz Lüke ist sofort da. Zwängt sich durch das enge Gatter. Setzt sich neben das Kalb. Spricht ihm gut zu. Das Muhen verstummt so schnell, wie es gekommen ist. Lüke kennt jedes einzelne der circa 170 französischen Limousin-Rinder und jedes der 100 Schweine auf dem Hof. Hier oben in den Stallanlagen hat er seine Kindheit und seine Jugend verbracht. Namen gibt es aber nicht. Ist besser so, meint Lüke. Schließlich müssen sie alle sterben.
Freitag ist Schlachttag in Altenheerse. Ein 380-Einwohner-Flecken auf dem östlichen Hang des Eggegebirges. Um kurz nach 9 Uhr morgens parkt ein Auto mit Viehanhänger vor dem Hinterausgang der kleinen Metzgerei Lüke im Dorfzentrum. Zwei Rinder werden ausgeladen, schlittern in den gefliesten Kellerraum. Sie hatten es nicht weit. Ihre Weiden und Stallungen sind keine 200 Meter Luftlinie entfernt. Nur ein paar Minuten später ist alles vorbei. Ihre zentnerschweren Leiber baumeln an dicken Stahlhaken von der Decke, eine Blutlache auf dem Boden. Lüke weicht ihr aus, zündet sich draußen eine Zigarette an. Alltag.
Zukunftsvision? Alles wie immer
Das Tier und der Tod sind das Geschäft des wohl jüngsten Metzgermeisters in ganz Ostwestfalen-Lippe (OWL). In seinem Ausbildungsjahrgang gab es niemanden, der jünger war als er. Die Handelskammer in Bielefeld hat zwar keine genauen Daten. Hält Lüke mit seinen 19 Jahren aber auch für den jüngsten Metzgermeister in OWL ist. Lüke ist mit allem früh dran. Zum Jahreswechsel will der 19-Jährige die Fleischerei von seinem Vater Andreas Lüke übernehmen. Bei den Lükes wird noch alles selbst gemacht. Es ist das Vermächtnis von Lükes Großvater, der damals nach dem Krieg als reisender Metzger von Haus zu Haus gezogen ist. Tierzucht, Schlachtung und Verarbeitung. Sogar das Futter für die Tiere bauen sie in Altenheerse selbst an.
Das gibt es so fast nirgendwo mehr. Und das soll auch so bleiben, wenn es nach dem Juniorchef geht. Der 19-Jährige ist kein Vordenker. Keiner, dem das Für und Wider des Fleischkonsums schlaflose Nächte bereitet. Schlachten sei nicht seine Lieblingsbeschäftigung, meint er, aber wer Fleisch wolle, müsse eben Opfer bringen. So einfach sei das. Lüke ist ein Pragmatiker, ein ehrlicher Malocher. Einer, der das bewahren will, was sie in Altenheerse immer schon gemacht haben. Fleisch essen.
(K)ein Unverbesserlicher
Jetzt könnte man einwenden, Lükes Festhalten an Altbewährten sei nichts anderes als unternehmerische Planlosigkeit. Seine erste Idee für die Zeit als Chef? Ein Fleischautomat neben der Eingangstür. Damit Kunden auch dann auf die Produkte der Lükes nicht verzichten müssen, wenn die Fleischerei mal geschlossen hat. Diese Idee kann man auch in Altenheerse niemandem als große Innovation verkaufen. Man könnte sogar noch weitergehen und zu dem Schluss gelangen, der 19-Jährige sei ein Unverbesserlicher, einer, dem es egal sei, dass sich im Land gerade eine Revolution vollzieht.
Die Deutschen essen nämlich immer weniger Fleisch. Im letzten Jahr waren es nach vorläufigen Angaben des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft nur noch 51,6 Kilogramm pro Kopf. Das seien über neun Kilogramm weniger als noch fünf Jahre zuvor. Die aktuelle Konsummenge sei außerdem die niedrigste seit Beginn der Berechnungen im Jahr 1989. Immer mehr Menschen greifen heute zu vegetarischen oder veganen Alternativen. Dazu zählen Fleischersatz aus Erbsenproteinen oder Wurstimitate aus Soja-Granulat.
Lüke kennt all diese Statistiken. Er weiß, wie sich das Essverhalten im Land verändert. Sein Festhalten an Altbewährtem folgt einem ökonomischen Kalkül und seine Lösung ist so simpel wie einprägsam: Vegan? Damit könne man auf dem Dorf niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Und: Wenn die Leute wüssten, wo das Fleisch herkommt und wie es produziert wird, würden sie auch welches essen. Noch tun sie das in Altenheerse. Lüke pokert darauf, dass sie es in 20 oder 30 Jahren auch noch tun.
Vom Aussterben bedroht
In den luftfeuchten Kellerräumen der Fleischerei riecht es nach frisch Gehacktem und harter Arbeit. Lüke steht vor einem riesigen Fleischstück und zerteilt es mit einer Knochensäge. Ganz nach seinem Geschmack. Wenn er hier ist, kann er den Kopf abschalten. Wenn er hier ist, muss er nur funktionieren. Ein paar Monate ist es erst her, seit sich der 19-Jährige jüngster Metzgermeister in Ostwestfalen-Lippe nennen kann. Seinen Abschluss an der Fleischerschule im bayrischen Augsburg hat er mit einem Dreierschnitt bestanden. Mit dem Lernen hat sich Lüke schon immer etwas schwergetan. Nach der achten Klasse ging er von der Hauptschule ab, versuchte sich auf dem Bau und in einer Kfz-Werkstatt. Seine Leidenschaft fand er dann im eigenen Betrieb. "Mein Vater hat mir immer den Freiraum gegeben, zu machen, was ich möchte. Ich musste kein Metzger werden. Doch jetzt bin ich froh darüber, dass ich einer bin", meint Lüke.
Vater Andreas wird es genauso gehen. Würde Sohn Moritz nicht in seine Fußstapfen treten, wäre am Jahresende in seiner Fleischerei endgültig Schluss. Und die elf Mitarbeiter der Lükes stünden auf der Straße. Der Seniorchef kennt das Sterben der deutschen Fleischereien nicht nur aus den Medien. Viele der ehemaligen Konkurrenzbetriebe im Kreis Höxter haben inzwischen aufgegeben.
Allein im Jahr 2022 sind in Deutschland über 1000 Fleischereien verschwunden. Grund dafür sei aber nicht die geringer werdende Nachfrage nach Fleisch, meint Sohn Moritz: "Über 90 Prozent geben auf, weil sie keinen Nachfolger finden. Es gibt einfach viel zu wenig Menschen, die den Job noch machen wollen."
Ostwestfälisch bleiben
Sie sieht ein bisschen verloren aus. Zwischen all der Auswahl. Lüke zieht seine "Egerländer" aus der Fleischauslage. Eine rote tschechische Dauerwurst, geräuchert und lange haltbar. Sie ist Lükes Meisterstück, wahrscheinlich die außergewöhnlichste Wurstkreation, die sich bei den Lükes finden lässt. Und sie verkauft sich gut: Über zwanzig Kilo allein in den letzten Wochen.
Ein Zeichen, mehr Risiko zu wagen? Nicht für Lüke. Der 19-Jährige ist nicht der Typ für Risiko. Er wird den Weg weiterführen, den sein Opa und sein Vater ihm bereitet haben. Ostwestfälische Wurstwaren für ostwestfälische Kunden. Einfach, traditionell, bodenständig. Unter seiner Führung wird er die Fleischerei Lüke vermutlich nicht zu einer viralen Marke in den sozialen Medien ausbauen. Vielleicht wird er noch nicht mal die in die Jahre gekommene Internetseite der Fleischerei modernisieren. Man kann das für aus der Zeit gefallen halten. Vielleicht ist es aber auch einfach eine grandiose Erfolgsstrategie.