Seit drei Uhr früh ist Siegfried Schling wach. An einem kühlen Novembermorgen steht er mit Schürze hinter seiner Theke und legt eine Papiertüte mit Obst auf die Waage. "10 Euro hätte ich gerne. 10,12 Euro eigentlich, aber heute ist Ihr Tag. Heute kriegen Sie Rabatt", scherzt er, lacht und reicht der Kundin die Tüte. Heute steht der 67-Jährige zum letzten Mal an seinem Gemüsestand auf dem Detmolder Wochenmarkt.
Nach mehr als 40 Jahren gehen Siegfried Schling und sein Bruder Volker Schling in den Ruhestand. Die Familie ist eine Institution auf dem Wochenmarkt. Rund 100 Jahre lang hatten die Schlings ihren Obst- und Gemüsestand auf dem Marktplatz im Stadtzentrum. Der Stand ist mittlerweile genauso fester Bestandteil des Platzes, wie das Rathaus aus dem Jahr 1830 oder die Erlöserkirche aus dem 16. Jahrhundert.
100 Jahre Familientradition: Mit Pferdewagen zum Markt
In den 1920er Jahren fuhr Großvater Fritz Schling von Lage-Müssen aus mit einem Pferdewagen auf den Markt. Dort gehören der Familie eine Gärtnerei und ein Hof. Bis heute leben Siegfried und Volker Schling auf diesem Hof. Ihr Vater führte den Familienbetrieb weiter, bis er 1981 schwer erkrankte. Von da an übernahm Siegfried Schling die Verantwortung. Volker Schling war zu der Zeit bei der Bundeswehr. Er stieg ein paar Jahre später in den Familienbetrieb ein.
"Der Markt hat unser Leben bestimmt. Wir haben mit dem Markt gelebt, für den Markt gelebt, aber auch vom Markt gelebt", sagt Siegfried Schling über die Zeit. Zu vielen Kunden hat sich im Laufe der Jahre ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Immer ein Lächeln im Gesicht und ein Scherz auf den Lippen - so gewannen die Schlings die Herzen der Detmolder.
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Doch langsam macht sich das Alter bemerkbar. "Das Ganze geht natürlich nicht körperlich an einem vorbei. Da kann man erzählen, was man will", sagt der 64-jährige Volker Schling. Er und sein Bruder gehen nun zusammen in Rente - Gesundheit sei wichtiger als wirtschaftlicher Erfolg. Zudem sei es nicht mehr so wie früher. Viele Wochenmärkte in Deutschland und ihre Standbetreiber kämpfen ums Überleben. Für 2023 meldete das Statistische Landesamt einen Umsatzrückgang von knapp über zehn Prozent bei Wochenmärkten.
Nachfolger übernimmt Marktstand
Am letzten Tag der Brüder zeigt sich aber noch einmal, dass sich die jahrelange Arbeit gelohnt hat. Siegfried und Volker Schling nehmen Geschenke, Umarmungen und Dankesworte zum Abschied entgegen. Gelegentlich wird auch mal eine Träne verdrückt.
"Sie werden mir wirklich fehlen", sagt Frau Scholz, eine alte Dame mit kurzen weißen Haaren. "Wir haben ja Gott sei Dank einen Nachfolger gefunden", antwortet der stets gut gelaunte Siegfried Schling freudig. Den Brüdern war es wichtig, dass jemand ihre Arbeit weiterführt. Das kommt auch Detmolds Markt zugute. Laut Industrie- und Handelskammer NRW dürfen Wochenmärkte nicht zu sehr ausdünnen. Je weniger Stände ein Markt habe, desto unattraktiver sei er.
Aber für Siegfried und Volker Schling heißt es nach einem langen emotionalen Tag erstmal Feierabend. "Ich werde nie wieder freiwillig um drei Uhr aufstehen, außer es geht in den Urlaub", sagt Siegfried Schling lachend zum Abschied und beendet damit eine rund 100-jährige Ära in Detmold.
Über das Thema haben wir am 08.11.2024 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.