
Die Todesfähre von Veltheim: Wie 81 Soldaten in der Weser ertranken
Stand: 15.04.2025, 07:26 Uhr
Vor 100 Jahren sterben bei einer Übung der deutschen Reichswehr nahe dem ostwestfälischen Örtchen Veltheim dutzende Soldaten in der Weser. Bis heute ist es das schwerste deutsche Militärunglück in Friedenszeiten. Wie konnte es dazu kommen?
Von Luca Peters
Schwarzer Dienstag
Es ist der 31. März 1925 gegen 9 Uhr morgens. Durch die Straßen von Veltheim pfeift der Wind. Seit Tagen hat es kaum aufgehört zu regnen. Die Weser, nur einen Steinwurf vom Dorf entfernt, ist zu einem reißenden Strom geworden. Trotz des miserablen Wetters wimmelt es in Veltheim von Menschen. In Scharen pilgern sie an das Weserufer. Hunderte, Tausende. Jeder hat von der riesigen Militärübung vor der eigenen Haustür gehört. Niemand will sie sich entgehen lassen. Noch wissen die vielen Menschen nicht, dass dieser letzte Märztag als der schlimmste Tag in die Geschichte des verschlafenen Wesernests eingehen soll.
Das sind einige der 81 Menschen, die an diesem Tag ihr Leben lassen mussten
00:26 Min.. Verfügbar bis 15.04.2027.
Auf dem anderen Ufer der Weser, nahe dem zum Fürstentum Lippe gehörenden Dörfchen Varenholz, rührt sich etwas. In Lastwagen sind die Soldaten des 18. Infanterie-Regiments aus ihrer Garnisonsstadt Detmold an die Weser "herangefahren" worden, wie es im Militärjargon heißt. Die "Achtzehnte" ist eine Ausbildungseinheit. Viele Soldaten sind blutjunge Rekruten und keine zwanzig Jahre alt. Die Pläne der Reichswehrführung sind klar. Die jungen Rekruten, zu Manöverzwecken mit dem Spitznamen "die Blauen" versehen, sollen bei Veltheim, wo seit dem Mittelalter eine Seilfähre die beiden Weserufer verbindet, über den Fluss übersetzen und anschließend ein Gefecht simulieren.
Doch sie sind spät dran. Wegen der verschlammten lippischen Straßen treffen die Soldaten erst mit eineinhalbstündiger Verspätung an der Weser ein. Im Eiltempo werden sie von den diensthabenden Offizieren auf die Pontonfähre getrieben, die einige Mindener Pioniere hier einen Tag vorher errichtet haben. Eine wacklige Behelfskonstruktion aus Metallwannen und Holzstreben, vollgestopft mit ängstlichen Menschen und Kriegsmaterial. Einige Augenblicke vergehen. Dann kommt der Befehl zum Ablegen der "Todesfähre". In Veltheim ist es 9.45 Uhr. Es ist der Anfang vom Ende für die "Achtzehnte".
Zurück in die Zukunft
100 Jahre später. Fast auf den Tag genau. Der gleiche Ort in einer anderen Welt. Es ist warm, fast 20 Grad. Lange blickt Reinhold Kölling auf das glitzernde Wasser, das sich vor ihm träge der norddeutschen Tiefebene entgegenschiebt. Da drüben ist es passiert, sagt er mit Bestimmtheit und zeigt auf eine unscheinbare Stelle im Wasser, einige Meter entfernt. Kölling, knapp über 70 Jahre, ist ein eloquenter älterer Herr mit ergrautem Haarkranz. Vor Kurzem hat er ein Buch mit einem martialisch klingenden Titel veröffentlicht: "Der Massentod von Veltheim".
Kölling ist der Ortsheimatpfleger von Veltheim und so etwas wie das atmende Gedächtnis des Wesernests. In Veltheim passiert nicht viel. Doch wenn etwas passiert, kennt Kölling seine Geschichte. Nun kramt er ein unscheinbares DIN-A4-Blatt aus seinen Unterlagen hervor. Eng beschrieben, in gedruckter altdeutscher Maschinenschrift.

Reinhold Kölling hat über das Unglück ein Buch geschrieben
Ein paar Fahrradfahrer am anderen Ufer der Weser genießen die schöne Aussicht, während Kölling vorzulesen beginnt. Johann Behrendt aus Altenböke bei Hamm. Georg Rey aus Berlin-Grunewald. Georg Kaes aus Mayen in der Eifel. 81 Namen stehen auf Köllings Liste. Es ist Veltheims Erbsünde.
Die "Todesfähre"
Zurück im Jahr 1925: Beladen mit 167 Menschen driftet das Fährungetüm auf die Weser hinaus. Einige Schaulustige wollen unbedingt dabei sein. Minutenlang redet der 20-jährige Kaufmann Wilhelm Brandt auf die Soldaten ein, ihn an Bord gehen zu lassen. Schließlich darf Brandt mitfahren. Er wird der einzige Zivilist sein, der an diesem Tag im Fluss ertrinkt.
Anderen ist die wenig vertrauenerweckende Fährkonstruktion nicht geheuer. Ein Kompaniehauptmann weigert sich, seine Männer einschiffen zu lassen. Sie sehen vom Ufer zu, wie sich ihre Kameraden auf den Strom hinauswagen. Mit eineinhalb Metern pro Sekunde klatschen die Wellen der Weser auf das glitschige Holzdeck. Die Soldaten werden unruhig. Dann ruft einer von ihnen: "Wasser im Ponton"! Aus Furcht drängen sie sich in einer Ecke der Fähre zusammen. Eine verhängnisvolle Entscheidung.

Die Rettungsarbeiten nach dem Unglück bei Veltheim
"Das hat die Fähre in eine Schräglage gebracht und dann sind die Soldaten ins Wasser gerutscht", erzählt Kölling. Die folgenden Szenen sind kaum zu ertragen. Viele der jungen Infanteristen können nicht schwimmen. In ihrer Panik klammern sie sich zu dritt oder zu viert aneinander. Andere wollen sich aus falsch verstandener preußischer Tugendhaftigkeit nicht von ihrem Marschgepäck trennen. Mit ihren Gewehren in der Hand ertrinken die Rekruten in der Weser. Später werden ihre Taschenuhren ans Ufer gespült. Ihre Zeiger sind stehen geblieben. Um 9.50 Uhr sind sie tot.
Als aus Männern Helden wurden
Veltheims dunkelste Stunde lässt einige seiner Bewohner zu Helden werden. Als der Schlosser August Buhmeier die Soldaten nur wenige Meter von seinem Zuschauerposten entfernt ertrinken sieht, stürzt er sich todesmutig selbst ins Wasser. Kleidung und Schuhe hat er noch an. Binnen Sekunden hat Buhmeier neun Ertrinkende ans Ufer geschleppt.
August Buhmeier erzählte seiner Tochter Christa von diesem Tag
00:38 Min.. Verfügbar bis 15.04.2027.
In seinen Memoiren klingt das so: "Unter anderem bemerkte ich einen Offizier mit grauem Haar, wie er sich krampfhaft an einem Weidenbusch festzuhalten versuchte. In letzter Minute konnte ich ihn dem Tode des Ertrinkens entreißen." Später zeichnet ihn das Land Preußen für seinen Mut mit der Ehrenmedaille am Bande aus. "Rettung aus Gefahr" steht darauf. Buhmeiers Tochter Christa, 78 Jahre, hält sie bis heute in Ehren.

Diese Auszeichnung hat August Buhmeier für seinen Einsatz bekommen
Als sich das Ausmaß der Fährkatastrophe von Veltheim herumspricht, wird das Dorf von Journalisten aus dem ganzen Land geradezu überrannt. Deutschland ist bestürzt wegen der Militärkatastrophe mit 81 Toten. Plötzlich wollen alle alles wissen über das kleine Weserdorf Veltheim und seine Bewohner. "Veltheim war auf einmal in aller Munde. Leider aus den völlig falschen Gründen", meint Kölling heute.

Das Unglück war deutschlandweit Thema
Auch die Politik ringt um Worte. In Lippe unterbricht der Landtag seine Sitzung, Landeschef Heinrich Drake eilt zum Unfallort. Sogar Reichspräsident Paul von Hindenburg richtet seine Anteilnahme aus. Und die Politik sucht nach Schuldigen. Im benachbarten Minden wird dem verantwortlichen Offizier, Oberstleutnant Gerhard Jordan, der Prozess gemacht. Die Anklage: fahrlässige Tötung.
Doch Jordan verweist auf archaische Dienstvorschriften aus dem 19. Jahrhundert, er habe lediglich pflichtmäßig gehandelt. Das Gericht sieht das genauso und spricht Jordan frei. Immerhin: Eine Behelfsfähre wie in Veltheim kommt bei der deutschen Armee fortan nicht mehr zum Einsatz. Und auch die Schwimmausbildung für junge Soldaten wird Pflicht.
Am Unglücksort von damals, auf einem kleinen Hügel über der Weser, steht heute ein kalkweißer Obelisk, ein Denkmal für die Verstorbenen des Militärunglücks. Es ist eine steingewordene Erinnerung an die 81 jungen Menschen, die an diesem Ort vor genau 100 Jahren ihr Leben verloren.
Über das Thema haben wir am 31.03.2025 auch im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.