Philosophie trifft Pott: Wie eine "Metropolschreiberin" das Ruhrgebiet entdeckt

Mülheim an der Ruhr | Heimatliebe

Stand: 09.03.2024, 13:24 Uhr

Eva von Redecker hat eine Aufgabe: Bis September darf sie als "Metropolschreiberin" das Ruhrgebiet kennenlernen und darüber schreiben. Für die Philosophin, Tochter eines Biobauerns aus der norddeutschen Provinz, der Eintritt in eine ganz neue Welt.

Von Martin Henning (Text) und Rainer Kuka (Multimedia)

Das Wohnzimmer der Brost-Villa in Essen ist gut gefüllt. Etwa 30 Gäste haben in den Stuhlreihen Platz genommen. Hohe Bücherregale säumen die Wände, sanftes, warmes Licht erhellt den Raum. Gespannt lauschen die Gäste den Ausführungen der "Neuen". Vor ihnen sitzt Eva von Redecker. Die 42-Jährige stellt ihr aktuelles Buch "Bleibefreiheit" vor. Und sich selbst. Von Redecker erzählt von ihrer Kindheit, ihren ersten Tagen im Ruhrgebiet und was sie für die kommende Zeit geplant hat. Sie macht Witze, lächelt viel, wirkt etwas nervös.

Was macht eigentlich eine Philosophin? 01:02 Min. Verfügbar bis 09.03.2026

Von Redecker hat einen besonderen Auftrag der Brost-Stiftung bekommen. Die kommenden Monate ist sie als "Metropolschreiberin" im Ruhrgebiet unterwegs und wird ihre Eindrücke zu Papier bringen. Jeden Monat schreibt sie einen kurzen Text, am Ende wird sie ein ganzes Buch über die Zeit veröffentlichen.

Zwischen Kohle, Kapitalismus und Kultur

In ihren bisherigen Texten schreibt die Philosophin über Kapitalismus, Eigentum und Freiheit. Diese Themen sollen auch ihre Zeit im Ruhrgebiet beeinflussen. Dabei könnten die Gegensätze nicht größer sein: Die Tochter eines Landwirts, geboren in Kiel und aufgewachsen auf einem Bio-Bauernhof in der Pampa von Schleswig-Holstein, macht eine Entdeckungsreise durch den dicht besiedelten und von Kohle und Stahl geprägten Pott. Unbekanntes Gelände für die 42-Jährige. Doch das ist genau so gewollt.

Was ist ein "Metropolschreiber"?

Seit 2017 vergibt die Essener Brost-Stiftung jedes Jahr das Amt des "Metropolschreibers Ruhr". Autoren sind eingeladen, bis zu einem Jahr im Ruhrgebiet zu wohnen, Menschen und Kultur zu erkunden und über ihre Eindrücke ein literarisches Werk zu veröffentlichen. Die Autoren sollen bewusst nicht aus der Region kommen, damit sie einen Blick von außen haben und neue Perspektiven aufwerfen können.

Benannt ist die Stiftung nach der ehemaligen WAZ-Verlegerin Anneliese Brost. Für die Dauer ihres Amts wohnen die Metropolschreiber in einer Mülheimer Residenz. Das Amt hatten unter anderem schon Gila Lustiger, Lucas Vogelsang und Per Leo inne.

Wie sie ihre Entdeckungstour angehen möchte? Mit ihrer ganz eigenen Methode des "Anti-Sightseeing", sagt die Norddeutsche. Nicht die bekannten Sehenswürdigkeiten abklappern, sondern "einfach mal so lange mit dem Bus fahren, bis er anhält." Sie will mit offenen Augen durch das Ruhrgebiet gehen, das Gespräch mit den Menschen suchen. Bei ihrer Vorstellung in der Essener Brost-Villa hat sie bereits erste Reisetipps bekommen: Bahntrassen-Radeln, das Museum Volkwang, die grüne Ruhr und ein Besuch in Duisburg, mit all seinen Gegensätzen.

"Ein großes Geschenk"

Die Philosophin im Pott - das passt besser, als man auf den ersten Blick meint. "Ich schreibe die ganze Zeit über Eigentum, Wirtschaft und fossilen Kapitalismus; ein System, das Waren produziert, in denen Energie verbrannt wird. Da führen eigentlich alle Wege ins Ruhrgebiet", sagt von Redecker.

Welche Ruhrgebiets-Themen faszinieren Eva von Redecker besonders? 01:00 Min. Verfügbar bis 09.03.2026

Der Arbeitstag der Philosophin ist voll und klar getaktet. "Sonst kommt am Ende nichts Geschriebenes raus", sagt von Redecker. "Nachmittags, ab etwa vier Uhr, beginne ich damit, Eindrücke zu sammeln. Ich hoffe, sie regelrecht auf mich einprasseln lassen zu können. Morgens ist das Wichtigste, dass ich schon vor dem Frühstück zwei Stunden geschrieben habe. Wenn das passiert ist, dann bin ich beruhigt." In der Zeit zwischen Schreiben und Feldforschung stehen Interviews, Events, Gespräche, Meetings und Einlesen in die Materie an.

Aufgeregt vor ihrem neuen Job? "Schon", sagt von Redecker, "aber das ist auch gut so." Es sei da genau wie mit dem Lampenfieber: "Wenn man das nicht hat, fehlt die Aufmerksamkeit. Aber die Freude überwiegt. Ich habe mir ja ausgesucht, dass ich in eher nicht so universitären Kontexten philosophiere. Da ist ein offenes Spielfeld mit einer klaren Aufgabe ein großes Geschenk."

Über das Thema haben wir auch am 12.01.2024 im WDR-Fernsehen berichtet: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr.